Eine Frau (Leopardenmantel, rote Absatzschuhe) befindet sich am Eingang eines aufgeräumten Stadthauses, üppiges Grün in der Vorgartenbepflanzung. Sie liegt auf dem Boden, weiter außerhalb steht ein Mann und raucht. Die Szenerie ist bedrohlich. Mit dieser Situation wird Boulevard des Oiseaux eingeleitet. Zu sehen ist diese Situation nicht.
Das Stück ist eine Hybrid aus Konzert und Szenischem, wobei die Interpretation von Jennifer Decker (Sprecherin) und Renaud Capuçon (Violine) hauptsächlich ohne Beiwerk auskommt. Es geht um die reine Suggestion der Worte. Sie interpretieren ihre Rollen und können dafür an Ihrem Notenständer stehen bleiben. Im Rahmen der zum ersten mal stattfindenden Biennale Boulez wird ein szenisches Experiment aufgeführt, das Sprechtheater und Musik konfrontiert. Dafür zeichnen Lancelot Hamelin, der den Text verfasste, und Benjamin Attahir, der die Komposition des Auftragswerkes (der Philharmonie de Paris) stellte, verantwortlich. Die beiden sind ein eingeschworenes Team, das sich, ebenso wie Renaud Capuçon, während eines Aufenthaltes in der Villa Medici kennen lernte.
Welche Sprache spricht die Musik? Oder welche Sprache ist die Musik? Diese Fragen stellte sich Benjamin Attahir für Boulevard des Oiseaux. Denn das Werk ist, wenn man dem Text glaubt, ein Gespräch zwischen einer Frau, die spricht, und einem Mann, in Form einer Violine, die antwortet. Daher ist es als Monodrama angelegt, denn nur die Frau spricht und evoziert Worte, Situation, Geschichten und Zukunft, Bilder die sie verfolgen. Mit einem Kniff wird der Monolog zum Dialog und bei genauer Betrachtung wird man gewahr, dass sich Hamelin und Attahir in ihrem gemeinsamen Projekt jeweils eigene Strategien suchten, um Ihre Kunst, Wort oder Noten, zum Zug kommen lassen. Man möchte fast von einer heimlichen Konkurrenz der beiden Künste sprechen. Im Text wird von Hamelin der Part der Violine vermenschlicht. Durch die suggerierte Dialog-Situation wird sie zum Zuhörer der Frau, die auch antwortet, nur eben mit Tönen, die keine Worte repräsentieren. Die Figurenbezeichnung der Violine heißt „Voix de l’homme“, die Regieanweisung „Le violon répond.“ Dazu gipfelt die Vermenschlichung der Violine in dem Moment, in dem Renaud Capuçon auch ein Wort ins Mikrofon spricht. Damit wird der Rollenansatz gebrochen, der bisher abstrakte Gesprächspartner der Frau wird konkret, es ist der Mann der auf der Bühne steht: Renaud Capuçon.
Aber ebenso suchte sich Benjamin Attahir seine Wege, seine Komposition nicht zu Wort, sondern zum Zug kommen zu lassen. Während Jennifer Decke mit Empathie und jugendlicher Naivität ihre Rolle spricht, sodass die Frau, ihre Kindheit und ihre jetzige Situation als Prostituierte, auch durch die Schuld des Mannes, in nachdenkliches Schweigen verfällt, gesteht Attahir der Musik fast keine Pause zu. Capuçons sensibles Spiel, das von starken, tiefen Vibrationen geschmeidig ins Flageolett huscht, imitiert mal Geräusche oder baut auch harmonische Verstrickungen auf. Still bleibt die Violine jedoch so gut wie gar nicht, was schade ist, da dadurch die Komposition Gefahr läuft zum dauerhaften Hintergrundrauschen zu werden, wenn man gespannt den dramatischen Worten Jennifer Deckers lauscht. Manchmal verfallen Sprachrhythmik und Musik in ein Tempo, selten werden die Parts in eine getrennte Dialog-Situation mit aufeinander folgenden Repliken aufgeteilt. Die Frau konfrontiert den Mann, dessen nervöses Gefühl kann man deutlich in der Musik hören. Aber auf einen dramaturgisch interessanten Bruch in der Komposition, wie er durch Capuçons gesprochenes Wort im Text angelegt ist, wartet man vergeblich. Daher gewinnt der Text im gesamten Stück an Brisanz, gefesselt ist man von der Geschichte der Frau, und zwar mehr noch als vom Part der Violine.