Zweifellos im Zentrum Raphaël Pichons musikalischen Daseins steht Johann Sebastian Bach, schließlich sprechen die eigene musikalische Prägung, für die sich der Dirigent mit „Bach hat mein Leben verändert“ zitieren lässt, und der Aufführungskatalog eine deutliche Sprache. Kein Wunder, dass es das Komponistengenie auch zur Mitte der Residenz Pichons in der Philharmonie Essen tut, in der er das Großprojekt seines Ensembles Pygmalion aus der Spielzeit 2017/18 des Konzerthauses in Paris, Bach en sept paroles, für ein strafferes, gekürztes Bach-Marathon-Wochenende ein Stück weit wiederaufleben ließ. La Vie du Christ hieß diese neukomprimierte Zusammenstellung – une trilogie sacrée – zu Beginn der Passionszeit, die die Stationen Jesu von Geburt, Leiden sowie der Auferstehung in mehreren berühmten Kantatenauszügen, den Oratorien und der Johannespassion – kombiniert mit Pichons singulären Beigaben bekannter wie wenig bekannter Stücke von Michael Praetorius, Jacobus Gallus und Bach selbst – bebildernd im Licht der Bühne edierte.
Im Licht bedeutete dabei wieder einmal, dass Pichons Lumendesigner-Freund Bertrand Couderc engagiert wurde, natürlich unablässlicherweise die Solisten, vor allem jedoch die Stimmungen des Texts und die sprichwörtlichen Stunden der Geschichte in Szene zu setzen, um eben diese unterstützend nachvollziehbar zu erzählen. Während sich Couderc dafür also an den Beleuchtungsmischer des Saals begab, ersonn Pichon das Noten- und Bühnenkonzept, mit dessen Realisierung er an seinem üblich niedriggestellten Dirigentenpult die vertonte Bibelhandlung nicht nur noch einleuchtender machte, sondern das Geschehen zu einem konzentrierten Einklang von überaus großer musischer Musterkültigkeit und intensiver Betrachtung von Trauer und Zuversicht gestaltete. Und das – freilich mehr als ungewollt – in einer Passionszeit, die von aktuell weltgeschichtlichem Leid und ersehnten Hoffnungszeichen der Gottesgnade und messianischen Erlösung im uns nahen Europa bestimmt ist, was Pygmalion und deren Vokalsolisten, zu denen Altbewährte wie erneut der staunenden Öffentlichkeit vorgestellte „Novizen“ zählten, veranlasste, im Zeichen der Solidarität mit der Ukraine selbstgebastelte Flaggen-Anstecker zu tragen.
Im ersten Konzert hieß all das, dass die Geburt Jesu vor Augen erstand, als sie mit der namensgebenden warmen Sopranarie der zu einem kurzen Adventsmoment umfunktionierten Weihnachtskantate Süßer Trost, mein Jesus kömmt in der nächtlichen ruhigen Erwartung der niederkünftlichen Wehen eingeleitet wurde. Diesen folgte attacca Teil I des Weihnachtsoratoriums, dessen Jauchzen zwar anfangs noch ein klein wenig verhalten war, der Chor allerdings bereits und dann kontinuierlich ausbreitend seine höchste technische Stimmkunst humanitär empfundenen, transparenten, präzisen Antlitzes zeigte, die in den olympischen Sphären des Ensembleniveaus dem geistlichen Repertoire Rechnung trägt, ohne weltliche Dramatik und rhythmisch übersetzte Tanzqualität einzubüßen. Vom ersten Ton an als Fixstern des gefeierten Lebens von Gottes Sohn auf Erden fungierten im dreifachen Glanz der Bühnengegebenheiten die außergewöhnliche wie entgegenfiebernd gewohnte Evangelisten-Referenz Julian Prégardien (bis auf beim „auf, auf“ lässig auf der Stufe des Bühnenrunds sitzend) und das Trompetentrio unter klanglich dominanter Anführung John Eliot Gardiners ehemaligen Pilgrimage-Mitglieds Mark Bennett. Er war es selbstverständlich auch, der die Bassarie zupackend und bestens anstrahlte, in der Christian Immler leicht dunkler und in seinem Vorbringen stets mühevoller und enger als der mehr als eindrücklich auftrumpfende Huw Montague Rendall agierte. Hatte Lucile Richardot noch kleinere Unausgewogenheiten phrasierungstechnischer Natur bei ihrem unvergleichlich und verlässlich leidenschaftlich-vokalaffin gefärbten empfangsausrichtenden „Bereite dich Zion“, hieß der Chor als Hirtenvolk und versammelte gegenwärtige Menschheit das Kind mit erwartender Bürde und Geborgenheit willkommen.
Dieses Erlösungsschicksal wie -geschenk trugen der weihnachtsoratorische Teil III und V (mit einem megaschnellen Eröffnungschor – das zumindest ein großes Präsent für mich) sehr beherzt weiter. Herauszugreifen die teils opernhaften, doch in sich stimmigen Duetteinlagen von Ying Fang und Rendall beziehungsweise den in Ton-Affekt-Lage wechselnden Erscheinenswünschen von Fang und Prégardien mit den Einwürfen der artikulatorisch mütterlich-instinktstarken Richardot sowie dem kernigen, mehr aus sich herausgehenden Immler beim lebendig-flammenden Eigenappell „Erleucht auch meine finstre Sinnen“. Nicht allein von Lichtkontrasten und dem szenischen Ausrichten der Blickwinkel von Chor und Absender/Empfänger umgeben, waren sie eingebettet durch Praetoius' Klassiker Es ist ein Ros entsprungen und einem weiteren Duett, dem aus der Neujahrskantate Singet dem Herrn ein neues Lied, mit der Pichon und Pygmalion übrigens 2015 ihr Debüt in Essen ablieferten. Beide – Ersteres zunächst in einem Arrangement für Blockflöte, da caccia-Oboe, Gambe und Cello begleitet, um in der Originalfassung à capella zu enden, berührend weich, schlicht und doch mit erheblicher Portion Theatralik – betonten die Hoffnungsessenz, wobei Rendall und Tenor Laurence Kilsby die Bewunderung mittels ihres innigen Vortrags in jeder Hinsicht auf sich zogen. Zur Namensgebung entfaltete zum Schluss der ebenfalls von mir favorisierte Eingangschor der Kantate größtmögliche Jubilierfreuden, als das gloriahafte Halleluja mit Entschlossenheit und Leichtigkeit seinen Weg und Schein in Ohren, Augen und Glieder fand.