„Extrem begabt,“ so beschrieb Deutschlands bekanntester Musikkritiker Joachim Kaiser die junge französische Pianistin Lise de la Salle 2007 in der Süddeutschen Zeitung. Und ja, es gibt keinen Zweifel daran, dass Lise de la Salle eine der talentiertesten Musikerinnen ihrer Generation ist. Dies stellte sie auch am 17.10. im Münchener Herkulessaal eindrucksvoll unter Beweis, obgleich der Abend nicht ausnahmslos perfekt verlief.
Lise de la Salle wagte sich schon früh an einige der monumentalsten und diffizilsten Werke der Klavierliteratur wie die Funerailles von Franz Liszt oder die Busoni-Bearbeitung der Chaconne aus Johann Sebastian Bachs Partita d-Moll BWV 1004. Mit der Chaconne begann sie auch ihr Münchner Recital. Sie besteht aus drei großen Blöcken, wobei zwei moll-Teile einen Dur-Abschnitt umrahmen. Die große Kunst und damit auch die enorme Herausforderung bei der Interpretation dieses Stücks besteht vor allem darin, die 64 Variationen innerhalb dieser drei so unterschiedlichen Abschnitte zu einem universalen Ganzen verschmelzen zu lassen. Bach lässt den Zuhörer im Verlauf der 256 Takte an der Erschaffung eines Kunstwerks teilhaben, so als dürfte man Rembrandt van Rjin über die Schulter schauen, während er eines seiner Meisterwerke malte. Jeder Pinselstrich, jede Spiegelung in den Augen der portraitierten Personen sind in sich brillant und bewundernswert. Doch tritt man einen Schritt zurück und betrachtet das vollendete Bild, offenbart sich der wahre Kosmos unmenschlicher Genialität. Bachs Autograph der Chaconne ist übrigens auch ein Kunstwerk für sich und spiegelt die unfassbar ästhetische Architektur dieses Werkes wider.
Lise de la Salle vermochte wohl viele der Bach‘schen Ideen überzeugend und teils berückend schön zu interpretieren. Doch es blieb bei den schönen Momenten innerhalb der viertaktigen Variationen. Der jungen Pianistin gelang es nicht ganz, sich von den Mensuren zu lösen und die unendlichen Bögen zu spannen, die Bachs Musik innwohnen. Dies lag wohl einerseits an einigen kleineren Konzentrationsschwächen, die sich auch noch bei Ravels Gaspard de la Nuit fortsetzen. Zum anderen war auch der Steinway-Flügel für die kristalline Akustik des Herkulessaals etwas zu hart intoniert, was es de la Salle umso schwerer machte, die pathetischen Busoni-Oktav-Kaskaden zum Singen zu bringen.
Das zweite Werk des Abends war Maurice Ravels Gaspard de la Nuit, ebenfalls eines der anspruchsvollsten Werke für das Klavier. In ihrem schimmernden blauen Satin-Kleid spielte Lise de la Salle den ersten Satz Ondine (die Wassernixe) streckenweise so spielerisch flirrend und fließend, als würde sie selbst gleich hinabtauchen in das Reich der Meerjungfrauen; sagt sie doch selbst von sich, dass sie sich immer noch fühle wie ein Kind beim Spielen, wenn sie Musik macht. Den zweiten Satz Le Gibet (der Galgen) spielte de la Salle äußerst langsam und schien nun endlich die meditative Ruhe zu finden, die ihr die gewohnte Souveränität für den restlichen Verlauf des Abends gab. Der listige Kobold Scarbo kam im dritten Satz dann auch so fahrig-virtuos daher, wie Ravel ihn sich wohl ausgemalt hatte. Hier beeindruckte die Pianistin mit ihrer traumwandlerischen Technik, gehört dieser Satz doch zum Schwersten, was für ihr Instrument geschrieben wurde.