Ganz typisch für Sir Simon Rattle war das Programm, mit dem der Dirigent mit seinem „neuen“ Orchester, dem London Symphony Orchestra, in der Alten Oper Frankfurt gastierte. Vor der Pause gab es eine Deutsche Erstaufführung, danach Mahlers Neunte Symphonie zu hören. Was hat Rattle nicht auch in Berlin für die wirklich zeitgenössische Musik getan. Dass sich ein Stardirigent dieser Arbeit unterzieht, ist aller Ehren wert und spricht für ein gutes Verhältnis zum Orchester; denn die Probenarbeit dauert so auch deutlich länger als die zu Aufführungen bekannter Werke.
Die schottische Komponistin Helen Grime hatte schon einmal für das London Symphony Orchestra komponiert, Rattle kennt die erfolgreiche Komponistin persönlich und hatte ihre Komposition Woven Space mit dem LSO im Londoner Barbican Center am 18. April uraufgeführt. Der Titel lässt sich als „geflochtener Raum“ übersetzen – und so mäandert die Musik um ein festes Gerüst. Alles ist Flechtwerk in dieser Partitur. Die Melodien nehmen unerwartete Wendungen und rauschen umeinander. Motive verzweigen sich, Rhythmen verschieben sich, um die vom Titel nahegelegte gewundene Form in Töne zu übertragen. Rattle zauberte unterstützt von dem dezent eingesetzten Schlagzeug, helle Orchesterfarben hervor, die wie Lichtstrahlen an einem klaren Winterhimmel leuchteten. Allerdings ist das Werk meist schrill, schneidend, fast knallend instrumentiert. Rattle glättete dies wie gewohnt nicht. Mit seiner deutlichen Zeichengebung gelang es ihm, die Klangmassen zu ordnen und das Werk zu gliedern.
Nach der Pause erklang Mahlers Neunte. Rattle dirigierte mit engagierter Inständigkeit, ließ zu Beginn das Ländlerthema langsam einschwingen und sich dann sanft aussingen. Er stellte diesem ersten Thema, so wie von Mahler vorgesehen, das leidenschaftliche d-Moll-Thema entgegen. So entstand ein symphonischer Dialog, in der Art wie er dem späten Wagner vorgeschwebt haben dürfte, als er darüber nachdachte, wie er komponieren könnte, wenn es keine musikalischen Dramen mehr sein sollten. Während Rattle früher im Kopfsatz alles klar machte, alles überdeutlich herausarbeitete, dass es drohte, der Musik dabei ihr Geheimnis zu nehmen, gönnte er der Musik nun die ihr nötigen Entspannungspausen, lädt nicht mehr jede Passage mit großem Affekt auf. Manchen Abschnitt dirigierte er mit Zurückhaltung, ja Ausdruckslosigkeit, wenn es der Gesamtdramaturgie gut tut. So etwa im Zentrum der Durchführung, wenn das erste Thema in seine Bestandteile aufzulösen ist, und nach einer Generalpause die Exposition wie aus einem Albtraum erwachend neu entsteht.