Idomeneo ist Mozarts erste vollgültige Oper. All seine davor komponierten Bühnenwerke wirken quasi wie Schulübungen. Diese erfüllt zwar formal den Formenkanon der opera seria, geht aber vor allem musikalisch weit darüber hinaus und ist sein erstes Meisterwerk des Musiktheaters, dessen Gipfel er mit der Trias der Da-Ponte-Opern erreicht. Aber auch die tragische Handlung, die komplexe Konfliktlage und die differenzierte Charakterisierung der Figuren dieses dramma per musica entfernen sich, trotz des unzureichenden Librettos, weit vom starren Schema der Seria. Hier wäre auf der Bühne viel Interpretation gefragt.
Jeremy Ovenden (Idomeneo)
© Matthias Baus
Die neue Stuttgarter Produktion antwortet darauf mit einer Grundidee: mit Schattenspielen. Tatsächlich sind die Seelen aller Protagonisten dieser Oper durch große Schatten verdunkelt: Idomeneo kämpft mit dem Schuldgefühl wegen seines grausamen Gelübdes, das ihm ein Menschenopfer abverlangt; Idamante, seinem Sohn, bleibt schmerzlich verborgen, warum sich der Vater nach langer Abwesenheit im Krieg so sehr von ihm distanziert; Ilia, die trojanische Prinzessin, am kretischen Hof im unfreiwilligen Exil, trägt schwer am Trauma des Verlusts von Familie und Heimat. Schließlich Elettra, letzte Verbliebene der vom Fluch des Unglücks gezeichneten Familie Agamennons und Orest, die hier auf Kreta ihr Glück zu finden hofft. Schwere Gewichte mythologischer Tragik hängen an diesen Gestalten.
Lavinia Bini (Ilia) und Anett Fritsch (Idamante)
© Matthias Baus
Der Regisseur Bastian Kraft symbolisiert dies mit Schattenbildern der Personen, die von Scheinwerfern am Bühnenrand an die weiße Hinterwand geworfen werden. Mal sind sie riesengroß und bedrohlich, mal schrumpfen sie zusammen, je nachdem wie Sängerin oder Sänger sich auf der Bühne bewegen. Das ist technisch perfekt gelöst, vor allem auch dann, wenn eine zweite abwesende Person lediglich als Schatten hinzutritt. Darüber hinaus deuten projizierte Videobilder die Vorgeschichte an, bisweilen weisen sie auf Zukünftiges oder sie versinnbildlichen Gedanken, Hoffnungen oder Ängste der Figuren. Etwa Idomeneos Albtraum von der Sohnesopferung oder wenn zu Ilias Trauer im Hintergrund die Gefallenen Trojas vorbeiziehen. Elettra wird begleitet vom Wahnbild ihrer Eifersucht, in dem sie Idamante und Ilia sich küssen sieht.
Doch so kunstvoll dies auch wirkt, diese Bilder verdoppeln auch oft nur die Figuren auf der Bühne und lenken von den lebenden Akteuren ab. Auf eine ausgefeilte Personenregie, welche die Figuren in all ihren Konflikten psychologisch schlüssig lebendig werden ließe, sie zu dramatischen Handlungsträgern machte, hat der Regisseur weniger Wert gelegt. Im Gegenteil: mitunter ist die Interaktion schematisch, die Protagonisten wirken steif und ihre Gestik pauschal – als würden die Schattenbilder das Schauspiel der Figuren erdrücken. Auch wenn sie elegant anzusehen und hoch ästhetisch sind, bleiben sie hauptsächlich Dekoration.
Staatsopernchor
© Matthias Baus
Die eigentliche Dramatik kommt aus dem Graben, wo GMD Cornelius Meister das Staatsorchester zu packendem Spiel führt. Nuanciert und beredt gestaltet das Orchester Mozarts differenzierte Klangwelt. Vor allem in der Begleitung der Accompagnati, in denen Mozarts Musik besondere Charakterisierungskunst entfaltet, zeigt sich in instrumentaler Vielfarbigkeit und fein abgetönter Dynamik von Hell und Dunkel die Qualität dieses Dirigats. Aufwühlende Kraft entsteht in den Sturmmusiken und filigrane Tonmalerei an lyrischen Stellen, wie der Begleitung von Ilias Zephir-Arie. Das Orchester wird stets zum entscheidenden Überträger der Stimmungen und Gefühle.
Diana Haller (Elettra)
© Matthias Baus
Sängerisch fällt die Bilanz durchwachsen aus. Jeremy Ovenden ist ein wenig profilierter Idomeneo. Für eine Herrschergestalt ist die Stimme zu klein, seine Gestaltungskraft bleibt angesichts der tragischen Fallhöhe gering. Für die lyrische Rolle der Ilia hat Lavinia Bini dagegen stimmlich zu viel Volumen. Ihre Stimme wirkt zudem monochrom und wenig flexibel. Diana Hallers Elettra dagegen soll mit Kraft nicht sparen. Ihre Gestaltung der Verzweiflungsarie am Schluss lässt alle Wut heraus und zeigt, dass Koloraturen bei Mozart nicht allein vokaler Schmuck, sondern tiefster Ausdruck der Seele sind. Zwar ist etwas abweichend von der Konvention die Rolle des Idamante mit einer Sopranistin (statt einem Mezzo), besetzt, aber Anett Fritsch singt so schön, so nuanciert und farbenreich, dass ihre Stimme ein Gewinn für diese Aufführung ist. Auch im Habitus als Person hoher Empfindsamkeit und edler Größe wird diese Sängerin zu einer überzeugenden Gestalterin ihrer Rolle. Solide werden die Nebenrollen von Charles Sy (Arbace), Eleazar Rodriguez (Oberpriester) und Aleksander Myrling (La Voce) verkörpert.
Anett Fritsch (Idamante) und Lavinia Bini (Ilia)
© Matthias Baus
Sonderbar hat die Regie den Schluss gestaltet. Zum einen wird der deus ex machina hier personalisiert. Wie eine Fantasiegestalt entsteigt ein zottliger grüner Wassermann, der auf dem Personenzettel als Stimme Neptuns ausgewiesen ist, dem Bühnenboden und verkündet „den Ratschluss des Himmels” (wie es im Libretto heißt). Diese Lösung überzeugt nicht, denn La Voce, lediglich als Stimme von oben, leitet die entscheidende Wende ein: Sie befielt mit der Absetzung Idomeneos die Abkehr von den alten Gesetzen, die Menschenopfer und Krieg bedeuten und die Hinwendung zur Menschlichkeit. Sie kann also nicht die Stimme der alten Götter sein, sondern bedeutet den Anbruch einer neuen Zeit – im Sinne Mozarts der Aufklärung.
Und auch Idomeneos Rolle bleibt hier unbefriedigend: Die Regie hinterfragt nicht, welche Konsequenz er aus seinem Versagen zieht. Unkommentiert darf er verkünden, wie glücklich Kreta nun sei und wie glücklich er selbst. Dass er um ein Haar seinen Sohn einem archaischen Ritual und einem falschen Pflichtbewusstsein geopfert hätte, scheint ihm nicht bedenkenswert. Etwas mehr Interpretation durch die Regie hätte da sicherlich abgeholfen.
***11
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