Beim Betreten des Zuschauerraums der Stuttgarter Staatsoper findet man den Vorhang bereits offen, kann in Ruhe das Bühnenbild betrachten und ist auf Anhieb irritiert. Man weiß, diese spätbarocke Oper spielt im antiken Ephesus. Im Vordergrund sieht man das Atrium eines antiken Palasts, vorne eine Freitreppe, in der Mitte ein Brunnen; Säulen begrenzen den Vordergrund. Aber hinten stehen ziemlich schäbige Häuserfassaden, ein heruntergekommener Hinterhof in einer Großstadt irgendwo. Wie soll das zusammenpassen?
Während der Sinfonia sieht man dann Leute über die Bühne stürmen, bis sich aus dem Getümmel die Darsteller der ersten Szene lösen. Ganz erschließt sich der Sinn erst am Schluss, wenn alle Akteure wieder aus ihren Kostümen schlüpfen. Dann begreift man, dass ein Spiel im Spiel stattfand: eine Opernhandlung aus ganz frühen Zeiten, die hier als Kulisse vor die Gegenwart gestellt ist.
Als Il Vologeso wurde die Oper 1766 im Hoftheater Ludwigsburg an der damaligen württembergischen Residenz uraufgeführt, wo Niccolò Jommelli 16 Jahre lang als Kapellmeister wirkte. Nun ist sie unter dem Titel Berenike, Königin von Armenien am Stuttgarter Opernhaus zum ersten Mal wieder zu erleben. Ebenso könnte auch der Name der dritten Hauptfigur Lucio Vero den Titel für dieses Werk hergeben, in dem noch mit einer vierten Hauptperson (Lucilla) ein Geflecht aus Begehren, Treue und vor allem Liebe gesponnen wird, das diese für eine Opera seria ungewöhnlich schlüssige Handlung spannungsvoll zusammenhält.
Jommelli hat all dies in eine stark expressive Musik gefasst, die vom Staatsorchester Stuttgart mit enormer Spannung aufgeladen wird. Besonders bei Jommellis Spezialität, dem Orchestercrescendo, dreht Gabriele Ferro die Dramatikschraube kräftig an. Das Staatsorchester spielt scharf pointiert und dank einer besonderen Aufteilung der Streicher in Untergruppen im Kammermusikformat auch sehr transparent. Dies kommt vor allem der Begleitung der Arien zugute, die dadurch schlank im Klang, federnd im Tempo und dynamisch in der Lautstärke bestens gelingt.
Noch mehr als in den Arien sind es bei Jommelli die vom Orchester begleiteten Rezitative, in denen er Situation und Seelenlage der Figuren musikalisch eindrücklich zeichnet. Die Hauptfigur Berenike wird vor eine der denkbar schwersten Entscheidungen gestellt: Sie könnte Vologeso, ihren Geliebten, vor dem Tod retten und ihm die Freiheit verschaffen, wenn sie sich von ihm lossagen und dem römischen Kaiser Lucio Vero hingeben würde, in dessen Gefangenschaft sich beide befinden. Berenike führt dies fast an den Rand der Verzweiflung. In einer der ergreifendsten Szenen muss sie annehmen, dass ihr das abgeschlagene Haupt Vologesos auf einem Silbertablett präsentiert wird.
Jommelli hat diese Situation in ein Rezitativ gefasst, welches von gedämpften chromatischen Streicherfiguren in trauermarschartigem Rhythmus begleitet wird. Ana Durlovski verkörpert diese Figur in ihrer ganzen Aufgewühltheit und Erschütterung. Facettenreich stellt sie die innere Zerrissenheit der Figur dar, zwischen Zweifel und Entschlossenheit, Mut und Verzweiflung hin- und hergerissen. Stimmlich gestaltet die Sängerin dies ausdrucksvoll und überaus anrührend. Nur in der Höhenlage klingt ihre Stimme mitunter etwas scharf.