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Babylons Herrscher endet als Pflegefall: Reinhard Keisers Nebucadnezar in Schwetzingen

By , 04 December 2023

Der gestürzte und wiedererhöhte Nebucadnezar, König von Babylon, unter dem großen Propheten Daniel – so lautet in barocker Schnörkelsprache der vollständige Titel dieser Oper, die 1704 an der Hamburger Gänsemarktoper uraufgeführt wurde, wo Reinhard Keiser zugleich Kapellmeister und Direktor war und produktiver Komponist. Von seinen etwa 70 Bühnenwerken sind die meisten verschollen. Das Heidelberger Theater hat Nebucadnezar jetzt im Rokokotheater Schwetzingen herausgebracht.

Stefan Sbonnik (Beltsazer) und Hélène Walter (Adina)
© Susanne Reichardt

Wie der Titel andeutet, spielt die Handlung in biblischer Zeit während der jüdischen Gefangenschaft in Babylon. Der Stoff ist im Buch Daniel des Alten Testaments überliefert, dient aber dem Librettisten Christian Friedrich Hunold mehr als Aufhänger für eine verwickelte Familiengeschichte.

Die Handlung ist auf den ersten Blick etwas schwer zu durchschauen, denn zwei Ebenen stehen nebeneinander: eine heroische um Nebucadnezar, der wegen seiner Herrscherhybris von Gott bestraft wird, und eine (wie es in der Barockzeit hieß) galante um die privaten Liebeshändel zwischen zwei hinzu erfundenen Paaren sowie der Königin Adina, Nebucadnezars Frau. Zusammen kommen diese Handlungsstränge erst als Nebucadnezar, wie in der Bibel überliefert, von Gott verurteilt wird, wie ein Tier unter Tieren zu leben. In dieser Inszenierung erleidet er einen Schlaganfall und wird, an den Rollstuhl gefesselt, zum Pflegefall. Seine Familie setzt ihn kurzerhand ab und Adina übernimmt die Macht.

Sara Gouzy (Cyrene) und Stafan Sbonnik (Beltsazer)
© Susanne Reichardt

Sie nutzt diese vor allem, um sich an den jungen Darius heranzumachen. Der allerdings kann sich zwischen zwei Frauen seines Alters nicht so recht entscheiden. Die eine, Nebucadnezars Tochter Barsine möchte lieber ihre Freiheit behalten, auf die andere, Cyrene, hat Beltsazer, Nebucadnezars Sohn, ein Auge geworfen. Ein erotisches Fünfeck also, das so einige Verwirrung stiftet, welche die Regie durch einige Striche glücklicherweise etwas gestrafft hat. Doch ganz gelingt dies nicht, denn die Handlung verläuft nicht eben zwangslogisch, sondern mit Lücken und Sprüngen und es gibt, anders als später etwa bei Händel oder Mozart, keine Rezitative, welche zwischen den Arien die Zusammenhänge erzählt und weitertreibt. Text und Musik konzentrieren sich ganz auf die Gefühle der handelnden Figuren. Auch ist das frühbarocke Deutsch auf Anhieb nicht so leicht zu verstehen.

Dann ist im Titel noch Daniel genannt, der jüdische Prophet in babylonischer Gefangenschaft. Er ist zusammen mit einem Engel Vermittler zwischen dem heidnischen König und seinem, dem einen Gott. Dreimal wird Nebucadnezar für seine Hybris bestraft, dreimal wird er von Daniel wieder gerettet. Am Schluss befreit er den König von den Infusionsschläuchen und aus dem Rollstuhl, doch ob sich dieser wieder aufrichten kann, bleibt offen. Anders als im Libretto wird Nebucadnezar nicht wieder erhöht, sondern bleibt am Boden liegen, während aus dem Off ein Choral erklingt: „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Leben”. So weist dieses Ende auf das barocke Motiv der Vanitas, der Nichtigkeit und Vergänglichkeit allen menschlichen Strebens. So kommt am Ende ein nachdenklicher Gedanke in diese weitgehend tragikomische Inszenierung.

Franko Klisović (Sadrach), Florian Götz, João Terleira (Daniel) und Shira Patchornik (Adina)
© Susanne Reichardt

Denn die amourösen Spiele der Gesellschaft am Hofe Nebucadnezars inszeniert Felix Schrödinger als ironisierte Seifenoper mit Figuren aus der Party- und Spaßgesellschaft. Entsprechende Kostüme verorten sie nahe am Boulevard. Und unter den wenigen Requisiten ist natürlich eine mobile Sektbar, während Daniel, dem Engel und dem bekehrten Nebucadnezar religiöse Attribute zugeordnet sind: eine Marienstatue und reichlich Weihrauch. Zentrales Ausstattungsstück ist ein barockes Prunkbett, auf dem sich einerseits Nebucadnezar in seinen Alpträumen wälzt, das anderseits auch als Lotterbett für einen angedeuteten flotten Dreier dient.

Die Sängerequipe spielt begeistert mit. Es sind vor allem junge Sängerinnen und Sänger, die hier durchweg eine glänzende Probe ihres Könnens geben. Und sie passen sich darstellerisch und vokal ihren Rollen hervorragend an. Mit kräftigem Bariton gibt Florian Götz zuerst einen machtverliebten und später tief erschütterten Herrscher. Der Tenor João Terleira singt den Propheten Daniel, sanftmütig trotz Waterboarding-Folter und erhaben im Trost und Erbarmen für Nebucadnezar. In Rollenanlage und im Stimmcharakter unterschiedlich sind die beiden jungen Frauen. In den eher offen zur Schau gestellten Affekten der Liebe hat Theresia Immerz als Barsine einige brillante Arien, die sie souverän meistert. Sara Gouzy singt die eher empfindsame Cyrene. In einer sanft von Violine und Blockflöten begleiteten Arie fragt sie sich anrührend, ob ihr Geliebter noch treu ist.

Florian Götz (Nebucadnezar) und Dennis Orellana (Darius)
© Susanne Reichardt

Dieser ist Darius, vielfach umschwärmt, aber wankelmütig in der Liebe. In der Uraufführung sang diese Rolle eine viel umschwärmte Sopranistin. Hier ist es der erst 23-jährige Sopranist Dennis Orellana, der in seinen koloraturgespickten Arien ein vokales Feuerwerk abbrennt. Sonderbeifall war ihm gewiss. Ebenso Shira Patchornik als Adina. Sie gibt die macht- und liebessüchtige Königin als kettenrauchenden Vamp, der keine Gemeinheit auslässt, auch nicht die Vergiftung der eigenen Tochter (glücklicherweise nur zum Schein). Auch sie hat Arien, die ihren Charakter deutlich zeichnen, wie am Schluss eine hochvirtuose Wahnsinnsarie. Als Beltzaser zeigt der Tenor Stefan Sbonnik Gefühl, aber auch die nötige Aggressivität. In zwei Nebenrollen überzeugen der Counter Franko Klisović als Sadrach und Christian Pohlers in der Rolle des opportunistischen Ministers Cores.

Mit Dorothee Oberlinger wurde eine Spezialistin der Alten Musik gewonnen, die das Heidelberger Orchester zu schönstem Barockklang führt, geschmeidig, beredt und klangschön. Einmal bereichert sie mit ihrem Instrument, der Blockflöte selbst die Klangfarbe einer Sinfonia.

****1
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Reviewed at Schloss Schwetzingen: Jagdsaal, Schwetzingen on 1 December 2023
Keiser, Nebukadnezar, König zu Babylon
Theater Heidelberg
Dorothee Oberlinger, Conductor
Gerd Amelung, Conductor
Felix Schrödinger, Director
Pascal Seibicke, Set Designer, Costume Designer
Andreas Rehfeld, Lighting Designer
Philharmonisches Orchester Heidelberg
Thomas Böckstiegel, Dramaturgy
Florian Götz, Nebucadnezar
Shira Patchornik, Adina
Hélène Walter, Adina
Theresa Immerz, Barsine
Sara Gouzy, Cyrene
Stefan Sbonnik, Beltsazer
Dennis Orellana, Darius
João Terleira, Daniel
Christian Pohlers, Cores
Franko Klisović, Sadrach
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