Der estnische Komponist Jüri Reinvere (*1971) gehört zu den gefragten Werkautoren unserer Zeit. Allein in der nordbayerischen Klassikszene trat er in kurzer Zeit mehrfach ins Rampenlicht, so 2019 mit der Uraufführung eines ungewöhnlichen Konzerts für Trompete, Orgel und Violine zur Bachwoche Ansbach, 2020 am Theater Regensburg mit der Beethoven-Oper Minona, die um eine mutmaßliche Tochter des Komponisten mit seiner „Unsterblichen Geliebten“ kreist. Werke, die andere Künstler wie Grieg oder Ibsen in den Fokus rücken, sind durchaus Reinveres Spezialität. Anlässlich seines 100-jährigen Bestehens hatte nun auch das Würzburger Mozartfest an Reinvere einen Kompositionsauftrag für eine Hommage an Mozart vergeben, die von den Bamberger Symphonikern unter Andris Nelsons uraufgeführt wurde.
Reinvere erläutert sein Notturno im Programmbuch: „In Maria Anna, wach, im nächsten Raum spielte meine Überzeugung eine Rolle, dass wir Komponisten im Wesentlichen von unseren engsten Mitmenschen geprägt sind. [...] So bin ich mir auch sicher, dass es Wolfgang Amadé Mozart wichtig war, Maria Anna, Nannerl, seine ältere Schwester gehabt zu haben.“ Gerade die häufige Abwesenheit von Wolfgang habe daher Maria Anna geprägt; dass sie nicht die gleichen Chancen hatte wie ihr Bruder, habe sie aber nie mit Bitterkeit empfunden. Sein Werk verbinde „die Genremalereien von Malern des siebzehnten Jahrhunderts wie Georges de la Tour, die Mädchen oft mit einer Kerze darstellen, und den Genrenamen des Nocturne, den Mozart bereits benutzte, sich aber deutlich von der Romantik unterscheidet. Es sind keine Stücke über die Nacht, sondern Musik in der Nacht.“
Reinveres Notturno verwendet die gleiche Instrumentierung wie Anton Bruckners Sechste Symphonie. Ursprünglich für eine Aufführung im Würzburger Dom konzipiert, wurde es nun aus Pandemie-Bedingungen in die Bamberger Konzerthalle des Uraufführungs-Orchesters verlegt. Während Reinvere in anderen Werken häufig Genre-Grenzen überschreitet oder sich von tonalen Bindungen befreit, bleibt er im zehnminütigen Mozart-Notturno eng am romantischen tonalen Kanon orientiert. Die flirrenden Geigen zu Beginn verbinden zu Bruckner, Klangflächen lösen sich zu Geigenmelodien mit virtuosem Oboen- oder Flötensolo. Eine Cellokantilene wird von Oboe und Streichern weitergesponnen, ein kräftiges Hörnermotiv von Fagottecho beantwortet. Dazwischen immer wieder tonlose Luftstrom-Geräusche, oft säuselnd wie ruhiger Atem, vielleicht Traumbilder aus beruhigendem Schlaf. Dagegen spiegelt offenbar kein Stück Mozart die Reminiszenz an die Salzburger Familienmusik: ein Notturno fast eher wie der Vorhall eines Brucknerschen Adagios, als dessen Gegenstück es Jüri Reinvere ja auch sah.