Jedes Ensemble erinnert sich an seine Entstehung oder seinen Tritt in die Öffentlichkeit, manchmal kann der interessierte Adressat der Musikinterpretation den Umstand dieser Premieren schon aus dem gegebenen Namen schließen. Wenn nicht diesen Anlass, so dokumentiert es mit dem Branding die Herkunft und das musikalische Kernrepertoire. Nicht anders ist dies bei den Tallis Scholars, deren Schwerpunkt in Tradition des großen englischen Paten im Erlebnis der geistlichen a capella-Vokalmusik der Renaissance liegt.
Etwas anderes kann sich offenbaren bei der Betrachtung des Schrittes von einem Sich-Namen-Geben hin zu einem Sich-Namen-Machen. Der erste Tonträger spielt dabei eine wesentliche Rolle und definiert im Falle eines gruppeneigenen Labels nochmals speziell Herzstücke der künstlerischen Arbeit. Die Tallis Scholars veröffentlichten als Erstwerk neben einer Missa Palestrinas und einer Motette Mundys das Miserere von Allegri. Es ist seitdem das Stück, mit dem das Vokalensemble weltweit tourte und populär wurde.
In bester Erinnerung an letztjähriges RheinVokal-Konzert mit dem Marian Consort erzeugte die Aussicht auf das live-Hören des Klassikers, noch dazu in der Anlage der Abtei Maria Laach, eine Extraportion Vorfreude. Birgt die Interpretation des zur Identität gewordenen Dauerläufers dennoch die Gefahr der veralteten, reizlosen Routine, so mischt sich unter künstlerischen Gesichtspunkten zudem eine erhöhte Aufmerksamkeit und Spannung – und nicht ausschließlich für mich als Rezensent.
Sofort verflog die Befürchtung der Abspulung, als die Lectio des Solo-Tenors, der hinter dem ersten, fünfstimmigen Chor im Altarraum postiert war, schon anders als gewohnt das Stück eröffnete. Der Chor fundierte den jeweiligen Vers des Psalmvortrags mit gewichtigem Bass und sorgte in der verbreiternden Akustik der Basilika mit dem ekklesial sprechenden Gesang für den Sog einer ganzen Betgemeinde, dem man sich nicht entziehen konnte. Der zweite, vierstimmige Chor verfehlte mit der variablen Antwort den Anschein der Himmelsantwort ebenso wenig, indem er hinter der Zuhörerschaft am anderen Ende des Kirchenschiffs aufgestellt war. Nicht nur der besondere, Mystik erzeugende (fälschlich eingebürgerte) c'''-Baustein des Soprans gelang darin höchstmöglich sicher, auch das Zusammenspiel im Chor und mit den räumlich Getrennten war perfekt – natürlich die professionell positive Seite des einmassierten Kernwerks. Gerade wegen dieser originären Trennung erzeugte Allegri einen umschließenden Zusammenhalt von erbauender Kraft, der in der Strenge auf experimenteller Größe fußt.
Abseits der solistischen Basisidee und der gewonnenen Überzeugungen aus puristischer Klangausbreitung der schönen Polyphonie in ihrer sakralen Einbettung entwickelte sich Peter Phillips' Interpretation durch Intensivierung, die unterschiedlichen örtlichen Gegebenheiten und vor allem die wechselnden Stimmen des jeweilig für die Anlässe zusammengestellten Ensembles doch zwangsläufig fort. So ist das typisch englische Klangbild aus Leichtigkeit und Klarheit mit minimal rauem Timbre noch mehr und ausnahmslos geprägt vom weichen Ansatz und von kompletter Vibratolosigkeit, womit die schlichte, reine Stärke im Dienst der Sache trefflich zur Geltung kommt. Besonders die fulminant guten Frauenstimmen entfalteten damit nicht nur die historische Knabenvokalität, sondern zeigen die kolorierte, (an-)strengende Kunst dieses Stilmittels in bester Blüte. Überzeugend bewiesen Leiter und Sänger, warum das Stück ihr Highlight ist: verändert, aber unverändert himmlisch.