Dass die Heidelberger Inszenierung von Giuseppe Verdis Oper La traviata ungewöhnlich werden würde, zeigte schon die Ouvertüre. Statt vor verschlossenem Vorhang musikalisch auf die Oper hinzuleiten, öffnete sich der Vorhang prompt, pantomimisch führten die Sänger in die Handlung ein; die Hauptpersonen in farblich hervorgehobenen Kostümen wurden vorgestellt, Violettas Erkrankung sichtbar. Ein genialer Schachzug gelang der Regisseurin Eva-Maria Höckmayr mit der Verdopplung der Bühne: Ein weiterer Vorhang öffnete sich und die Darsteller verbeugten sich vor einem auf der Bühne sitzenden Publikum. Die Fiktion war gebrochen, die Illusion genommen – diese Oper sollte nicht etwa unkritische Identifikation mit den Protagonisten zum Ziel haben, sondern Violetta als Schauspielerin entlarven und die Handlung als kritische Reflexion der Gesellschaft gewahr werden lassen.
Genau dieses Ziel der Anregung zur Reflexion verfolgte die Gesamtkonzeption der Oper. Ein sehr schlicht gehaltenes Bühnenbild, eine unprätentiöse schauspielerische Interpretation und ein ebenso zurückhaltend wie differenziert spielendes Orchester unterstrichen wirkungsvoll die szenische Umsetzung des Werkes. Hinter diesem faszinierenden Effekt standen Orchester und Sänger jedoch nicht zurück. Ihre großartige Leistung erst fügte alle Elemente homogen zusammen. So unterstrich das Orchester mal locker und leicht die vielen Feste oder untermalte bedrohlich und laut den Wutanfall Alfredos. Stets im Hintergrund lieferte es so den emotiven Rahmen für die Handlung, die vor allem von der in nahezu allen Szenen präsenten Violetta dominiert wurde.
Abermals brach die Fiktion auf, als Alfredo zum berühmten Trinklied „Libiamo ne‘ lieti calici“ aufrief. Nicht etwa ausgefallenes Feiern und Tanzen wurde gezeigt, sondern eine standbildartige Choreographie. Hier war inszeniert worden, es fand keine Trinkszene statt, sondern die Abbildung einer solchen. Fast ironisch wirkten die statischen Bewegungen, so vorgegeben, dass sie Nachdenken anregten - ist das erwartete Verhalten denn nicht weniger vorgegeben, nicht einfach Konvention, unausgesprochene Inszenierung? Diese Szenerie verband sich mit den feinen, beschwingten Orchesterklängen; Carlos Osuna als Alfredo gab trotz Erkältung mit klarer und kräftiger Stimme den Auftakt zum Trinklied, dem Irina Simmes als Violetta eine brillante Färbung verlieh.
Die besondere musikalische Qualität dieser Aufführung verdankt sich vor allem der herausragenden Leistung der Sopranistin Simmes, die mit in ihrer Interpretation sämtliche Gefühlslagen der Protagonistin erfahrbar machte. War sie als Violetta im Trinkgelage noch die brillante, sich selbst inszenierende Geliebte, so wich dies bald einem schmerzlich gepressten Ton, der ihre schwache Gesundheit illustrierte. Die Regisseurin spaltete an dieser Stelle den Charakter Violettas in zwei Schauspielerinnen auf – die gesellschaftlich aktive Kurtisane im Hintergrund, und die kranke, liebende Frau im Vordergrund. Die Spannungen in ihrer Person wurden so szenisch greifbar, die Verbindung moderner dramaturgischer Mittel mit der Musik Verdis wurde zum entscheidenden Charakteristikum dieser Inszenierung und zeigte diese zeitlose Liebesgeschichte in zeitgemäßer Form.
Violetta gestand sich in der Arie „Ah, fors’è lui che l’anima“ in unvergleichlich schöner, tief eingefärbter Melancholie ihre Liebe zu Alfredo ein, eine Liebe, die „der Herzschlag der Welt ist“. Völlig anders erlebte man sie jedoch in der Koloraturarie „Follie!...Follie!...“. In den rauschhaften, meisterhaft artikulierten Koloraturen wurde Violettas Unentschlossenheit zwischen Liebe und gesellschaftlichem Leben greifbar. Höchste sängerische Qualität prägten auch die Szenen, in denen Violetta auf Alfredos Vater Giorgio, gesungen von Ipča Ramanović, traf. Kräftig und beherrschend präsentierte der Bariton dessen patriarchale Autorität, die das Ende der Liebe Violettas zu Alfredo durchsetzt.