Diese Entdeckung bietet sich dem Konzertgänger nur selten: als Auftakt zur beliebten Tallis-Fantasia von Ralph Vaughan Williams musizierten Edward Gardner und Bergens achtstimmiger Edvard Grieg Kor Thomas Tallis' 3rd mode of Archbishop Parker’s Psalter aus dem Jahr 1567. Die Melodie dieser mehrstimmigen Motette machte Vaughan Williams 1910 zum Hauptthema seiner Fantasia, die sich unmittelbar an die Sänger anschloss. Wer sich sonst nur am romantischen Überschwang dieser Elegie für Streichquartett und zwei ungleiche Streicherblöcke labte, konnte plötzlich die intensive Verdichtung der Vorlage durch den englischen Spätromantiker erleben. Circa dreißig Musiker im großen Block, eine wie ein Fernorchester versetzte kleinere Streicherlinie, vorn die Quartettsolisten: Vaughan Williams' meisterhafte individuelle Satztechnik wurde so optimal aufgefächert und erlebbar, entwickelte sich in kammermusikalisch verliebtem Detail ebenso wie in den üppig majestätischen Tutti zum atemberaubenden Faszinosum.
Trotz Eispanzer und Pandemie stellt das Bergen Philharmonic Orchestra in diesen Tagen ein prachtvolles Internet-Festival mit Konzertpretiosen unter dem schmunzelnd mehrdeutigen Titel „Wintermezzo“ auf die Beine. 1765 gegründet und eines der ältesten Orchester der Welt: Kälte kann es nicht schrecken, und bereits im April 2020 hatte es, nicht nur wegen Corona, erstmals die Möglichkeiten einer virtuellen Festivalgestaltung ausgelotet. Dass sich der „Live“-Stream schließlich doch als Strauß großartiger Mitschnitte herausstellte, verzieh man gern; dicht gedrängtes Publikum ließ bei der Brahms-Symphonie ein prä-coronares Aufnahmedatum vermuten.
In Johannes Brahms' Vierte Symphonie fließen strenge Architektonik, barocker Kontrapunkt und romantisches Sehnen zusammen, geradezu wie bei einem letzten Opus summum, dem orchestral nur noch das Doppelkonzert folgte. Edward Gardner hatte die Bergener Philharmoniker in großer Besetzung aufgeboten, ließ das Orchester dennoch vital fließend, mit organischem Atem und ohne jedes massive Auftrumpfen agieren. Schon im einleitenden Allegro non troppo beeindruckte das feine Aushorchen des polyphonen Satzes in den unzähligen Varianten der motivgebenden Terz, Umkehrungen und Erweiterungen, klangsensibel zu sanften weitgespannten Legatobögen verbunden. Ebenso meisterhaft gelang das selbstbewusste Seitenthema der Holzbläser, die innig ausgemalte Melodie der Cellisten. Nach der knappen Durchführung eine Reprise, die in der erregten Vergrößerung mehr wie ein Neuanfang wirkte und mit leidenschaftlicher Energie die wuchtige Coda speiste.
Träumerische Besinnlichkeit hatte das Andante moderato: ausgewogen und balladesk von den Hörnern eingestimmt, in den Holzbläsern harmonisch melangiert aufgenommen, mit romantischer Wärme und süßer Wehmut von den Streichern ausgekleidet. Das giocoso nahmen sie beim Wort: ausgelassen, fast dämonisch heiter der dritte Satz, der zwar nicht Scherzo heißt, sich aber zwischen Grazie und Poltern, aufreizendem Triangelklirren und sinnendem Flötenflüstern so gebärdete.