In Alexandre Dumas' Theaterstück ist die Kameliendame eindeutig eine Kurtisane, also eine Edelprostituierte, in Verdis Oper La traviata, deren Librettist Francesco Maria Piave den Roman als Vorlage hatte, weist der Titel noch auf eine vom rechten Wege Abgekommene hin. Doch Regisseur Simon Stone, der die Oper in einer Koproduktion der Pariser und der Wiener Staatsoper inszeniert hat, die ihre Premiere am Haus am Ring jetzt coronabedingt als Livestream präsentiert hat, fand im Libretto auf eine solche Deutung keinerlei Hinweis, wie er im Wiener Programmheft darlegt. Zwar rede Alfredo Germont, der Geliebte der „Traviata“ Violetta Valéry, einmal davon, er „bezahle“ sie, doch meint er damit eigentlich nur, dass er ihr das zurückzahlt, was sie für ihr gemeinsames Liebesleben bereits ausgegeben hat, und das ist immens, wie Stone deutlich macht. Immer wieder flimmern über riesige Projektionsflächen die Kontoauszüge mit den roten Zahlen und die Mahnschreiben der Bank.
So ist Violetta bei Stone denn keineswegs ein Geschöpf der Halbwelt, sondern vielmehr angesagter Star der großen Welt, eine Influencerin großen Ausmaßes. Stone lässt im ersten Akt die Homepage seiner Heldin über die Projektionsflächen ziehen, mit den immer größer werdenden Zahlen ihrer Follower, deren Likes, ihren Postings. Diese Projektionen sind das eigentliche Bühnenbild. Der Imbissstand, an dem Violetta sich nach einem großen Ball noch einen Happen holt, ist eigentlich überflüssig, zumal Stone Bühnenrequisiten und -bauten spärlich einsetzt, aber immer symbolisch und wirkungsvoll, so etwa die gigantische Pyramide aus Champagnergläsern, in die Alfredo von oben den schäumenden Saft fließen lässt als Ausdruck einer ganz den banalen Genüssen lebenden Partygesellschaft, einer Welt der Oberflächlichkeit. So tritt Violetta im ersten Akt im Silberlamékleid auf, und die Party, die ihre Freundin Flora im zweiten Akt gibt, wirkt fast wie eine Transvestitenshow. Stone greift hier virtuos auf, was Verdis Libretto andeutet, wenn da Wahrsager und Stierkämpfer auftreten. Stones Traviata ist ganz im Hier und Heute angesiedelt, und selten funktioniert eine derartige Modernisierung so bruchlos wie bei ihm.
Diese Deutung wird allerdings problematisch, wenn Stone sich dem Kern dieser Liebestragödie nähert, der Forderung von Alfredos Vater, um der Zukunft von dessen Schwester willen die Liebesbeziehung zu beenden, einer Forderung, der Violetta unter Tränen nachkommt. Als erfolgreiche Influencerin aber, um deren Gesellschaft und Nähe auch Vertreter des Adels sich bemühen, dürfte Violetta selbst Teil der ehrbaren Gesellschaft sein und keinerlei Hindernis für eine angemessene Ehe von Alfredos Schwester darstellen.