Er wurde im vergangenen Herbst immer wieder als Wunschkandidat gerade auch des Orchesters für die Nachfolge des verstorbenen Mariss Jansons genannt: in der Weihnachtszeit wurde die Berufung dann öffentlich gemacht, und nun stand der designierte Chefdirigent Sir Simon Rattle erstmals wieder vor dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Offensichtlich völlig entspannt und gelassen, und doch hatte die Pandemie eine besondere Würze ins Programm-Menü dieses „Antritts-Konzerts“ gemischt, denn seit vielen Monaten bereits war Rattle als Dirigent dieses musica-viva-Konzertabends auf dem Programm vorgesehen. Nun wurde es – Corona regelrecht – in zwei Hälften aufgetragen, an Stelle von Kurtág und Ligeti in neuer Werkfolge mit Adámek und Messiaen im Gasteig sowie Purcell und Haas im Herkulessaal serviert.
Woher kommen und wohin gehen wir? Wie ein roter Faden zog sich die Fragestellung durchs Programm. Ondřej Adámek, 1979 geboren, kopiert gern Alltagsgeräusche und verbindet sie mit instrumentalem Klang wie in Le Dîner. Das kann verschmitzt lächelnd passieren, oder grüblerisch, wie in Where are You? für Mezzosopran und Orchester, wo es um die Suche nach dem Göttlichen geht. Der Kompositionsauftrag an Adámek kam gleichermaßen von der musica viva des Bayerischen Rundfunks und dem London Symphony Orchestra: wie sinngebend, dass Simon Rattle nun Leiter beider Klangkörper ist! Flöten, Klarinetten, Hörner, Posaunen gleich vierfach besetzt, großes Schlagwerk, Klavier, Harfe und Streicher: gut 50 Musiker breiteten im konzentriert-klaren Dirigat von Rattle ein 40-minütiges dichtes Sound-Kaleidoskop aus, das dauernd in Bewegung war, vom monotonen Ticken einer Uhr bis zum weit ausschwingenden, elektrisierend rhythmischen Stampfen des Tutti-Apparats.
Und am Wichtigsten bei der Suche: das Wort! Beginnend mit der Bibelstelle, wo Elias nach seinem Herrn ruft, ihn im Feuer, dem Zucken der Blitze, gewaltigen Hagelsturm, Erdbeben, Gesang oder Tanz nicht findet: das Wort ist das Zentrum von Adámeks Werk. In alttestamentarischem Aramäisch, in tschechisch oder mährischem Dialekt, auf spanisch oder in Sanskrit: die Mezzosopranistin Magdalena Kožená meisterte überwältigend die vielsprachige Herausforderung, skandierte drängend im einleitenden „Awoon dw-ash-meya“ jeden Vokal, knetete und formte, oft mit ausladenden Armbewegungen unterstreichend und vielfach repetierend, jede Silbe wie die Ingredienzien eines bäuerlichen Hefeteigs, dominierte das Klanggeschehen mit sonor tiefer Sprechstimme ebenso wie in virtuoser Höhe gelegener Koloratur.
Die Musik begeisterte im Verlauf durch zunehmend melodiöse Partien, wenn von Wonne und Süße der heiligen Engel berichtet wird, wenn die spanische Saeta die Sehnsucht nach der beschützenden Gottesmutter besingt, wenn schließlich die Weisheit der indischen Bhagavadgita-Dichtung das Göttliche überall, besonders aber im Unscheinbaren, Unspektakulären findet. Eine bewegende Uraufführung, die einen unvergesslichen Schlussmoment setzte: wenn die Instrumente verstummen und die Instrumentalisten unter den Gesten von Kožená summend, säuselnd, wispernd die Elias-Geschichte auflösen!
Die Frage des „Wohin?“ bewegte auch Olivier Messiaen in Et exspecto resurrectionem mortuorum für Holz- und Blechbläser sowie Metallschlaginstrumente. Sein komponiertes Glaubensbekenntnis an eine Auferstehung bezieht ihre musikalische Kraft aus der Imagination von Kathedralen und Gebirgsmassiven, Klängen aus der Natur und dem fernen Osten. Archaisch tiefe Posaunen, weit gefächerte Tonfarben im Quartett von Flöte, Oboe, Englischhorn und Klarinette, immer gewichtigere Einmischung der Schläge von Tamtam und Glockenspiel: das waren Momente, in denen Messiaens gläubige Zuversicht frenetische, fast gewalttätige Züge annahm, Rattle und das Orchester Augenblicke von Grenzüberschreitung, wie weißglühender Ekstase musizierten. Ein packendes Pendant neben Adámeks Gottessuche!