„Ladies first” habe ich gelernt und so stand es auch im Programmheft. Aber Matthias Pintscher und sein Ensemble intercontemporain hatten die Programmreihenfolge des schon im März in der Pariser Philharmonie aufgenommenen Konzerts verändert und das fragile kurze Kammermusikstück von Olga Neuwirth, coronAtion II: Naufraghi del mondo che hanno ancora un cuore (Schiffbrüchige der Welt, die noch ein Herz haben) zwischen die klanggewaltigen Ensemblestücke der Italiener Stefano Gervasoni und Aureliano Cattaneo gesetzt.
Olga Neuwirth sagte in einem Interview anlässlich der Uraufführung von Naufraghi: „Als freischaffende Künstlerin fühle ich mich schon seit meinem 16. Lebensjahr in Quarantäne. Diesen Zustand hatte ich jedoch selbst gewählt.“ Nun aber leidet sie doppelt unter der erzwungenen Isolation. Nachdem ihre Oper Orlando im Dezember 2019 in Wien uraufgeführt wurde, hat sie ihre Webseite nicht mehr aktualisiert. Im vergangenen Jahr hat sie dennoch fünf sehr verschiedene Kompositionen unter dem Titel coronAtion geschrieben: Die erste, io son ferito ahimé (ich bin leider verletzt), ist inzwischen vom Klangforum Wien aufgenommen und veröffentlicht worden, und auch die folgenden Titel (spreading a dying spark, whoever brought me here, Spraying Sounds of Hope) kann man als Zustandsbeschreibungen der österreichischen Künstlerin lesen. Naufraghi ist dem Pianisten und Dirigenten Daniel Barenboim gewidmet, der dieses Stück im vergangenen Sommer auf seinem Moderne Musik Festival im Berliner Pierre Boulez Saal aus der Taufe hob. Wie in Berlin stand auch in Paris der Flügel zu Anfang des Stücks zentral in der Mitte der Bühne. Oboe, Klarinette, Geige und Bratsche bildeten darum herum ein weiträumiges Viereck. Neuwirths Musik begann unbestimmt impressionistisch, bevor John Stulz mit einem Bratschensolo tonschön und emotional hervorbrach. Sprühende Tonleiterläufe in die Tiefe beherrschten das musikalische Geschehen bis zum dem Zeitpunkt, an dem das Licht ausging und die vier stehenden Musiker von ihren Positionen über Leuchtpfeile am Boden zum Flügel geleitet wurden. Dabei unterbrachen sie ihr Spiel nicht. In der neuen Aufstellung veränderte sich der Charakter der Musik vollständig: Martin Adámek spielte leidenschaftlich Klezmer ähnliche Klarinettenmelodien, die sich das ausgezeichnete Quintett zu einem Tango einverleibte und damit einen leidenschaftlich-ironisierenden Abgesang auf die traditionelle Kammermusik zu Gehör brachte.
Spaß muss sein in diesen ernsten Zeiten und das war im Zusammenhang mit den übrigen schwer fassbaren Stücken dieses Konzertabends bitter nötig. Auch in Gervasonis Eufaunique mit dem das Konzert begann, hatte die Bratsche eine besondere Rolle. Sie begann mit einer kurzen virtuosen und endlos wiederholten Figur und symbolisierte damit für Gervasoni das Menschlich-Weibliche. Dem gegenüber stand eine Hirtenmelodie der Oboe, die das natürlich-unschuldige Tierreich darstellte. Das Ensemble musizierte in verschiedenen ruhigen Stimmungslagen, immer wieder unterbrochen von fragenden Ruhemomenten mit minimalistischen Tontupfern, sodass man die Ohren spitzen musste und die Zeit still zu stehen schien. Danach aber zerbrach die Idylle: Es gab ein unruhiges Durcheinander von schnellen Tuttipassagen, abgewechselt von Passagen mit überraschenden Klängen, die bisweilen selbst elektronisch erzeugt wirkten. Gervasoni erklärte diesen zweiten Teil der im letzten Jahr überarbeiteten Partitur als eine Vertreibung aus dem Paradies. Aus dem einfach nachvollziehbaren Beginn entwickelte sich ein immer schwieriger fassbarer Lindwurm von atmosphärisch sehr unterschiedlichen Kapiteln, die wie die kleinen Scheinwerfer im Bühnenhintergrund unregelmäßig aufflackerten und wieder erloschen. Die Überflutung mit verschiedenstem musikalischen Material führte dazu, dass man kurz vor Schluss der Kamera erleichtert zum Bühnenhimmel folgte in Erwartung einer Auf- oder Erlösung.