„It’s OK to cry now, but be who you are and write“, singt Orlandos gender non-binary Kind im sechzehnten von neunzehn Bildern, die Olga Neuwirth mit Co-Librettistin Catherine Filloux für ihre „fiktive musikalische Biografie“ gestaltet hat. Ja, weinen möchte man aus Enttäuschung, dass auf dem Fundament des großartigen, Geschlechtergrenzen und soziale Normen sprengenden Orlando von Virginia Woolf kein funktionierendes Musiktheater gebaut wurde (und das trotz bombastischen Aufwands). Aber Kritikerinnen sind, wer sie sind, und schreiben – auch wenn es wehtut: Auf den ersten Kompositionsauftrag der Wiener Staatsoper an eine Frau hätte man wirklich lieber eine Lobrede gedichtet.
Obwohl, an der Musik liegt es nicht; da leuchtet ein bunter Regenbogen von choralartigen Passagen bis hin zu Zitaten aus Rock, Pop und Jazz, weil Neuwirth/Filloux die 1598 beginnende und 1928 endende Vita von diesem/dieser Orlando bis ins Heute fortspinnen. Auch mangelt es nicht an Ideen, an guten Worten und noch mehr gut Gemeintem; vielmehr gibt es im zweiten Teil des Abends zu viele Belehrungen und Unfrohbotschaften: Das Klima ist kaputt, es gibt irre Politiker und Nationalisten (bei Neuwirth: „Mutanten“), und früher war es auch schlecht; schon in der patriarchalisch-heteronormativen Familie des viktorianischen Zeitalters gab es sexuellen Missbrauch… Man hat Neuwirth für diese Botschaften eine große Bühne gegeben, und diese Chance hat sie bis ins Letzte ausgenutzt. Das sorgt aber weder für tolle Unterhaltung, noch für neue Einsichten, dafür bewahrheitet sich die alte Weisheit, dass weniger oft mehr ist.
Sie kritisiert aktuelle und vergangene Gesellschaften (und zurecht!), aber auch ihrem eigenen Werk hätte Kritik vorab gutgetan, insbesondere in Form von Strichen. Der anfangs erwähnte Song, dargeboten von Trans-Genre-Künstler Justin Vivian Bond, wäre etwa ein attraktiver Schluss gewesen, stattdessen zog sich die weitere Handlung trotz musikalischer Kurzweil wie Strudelteig. Und natürlich ist es schwer, einen Roman in ein episodisches Bühnenwerk zu verdichten, aber muss man Woolf korrigieren? „Oh why is reality so multiple and complex?“, lassen Neuwirth/Filloux den jungen Orlando sagen, wo doch Woolf zu Beginn ihres Romans schildert, dass man Ende des 16. Jahrhunderts noch keine „reality“ kannte, oder zumindest nicht im Sinne von brutaler Wirklichkeit verstand (und schon gar nicht mit Adjektiven des 17. Jahrhunderts verband). Das ist natürlich eine Einzelbeobachtung und künstlerische Freiheiten darf man sich nehmen – aber warum überhaupt mit Worten erklären? Die Vermittlung multipler und komplexer Ideen mit theatralischen Mitteln wäre wohl Aufgabe der Regie (Polly Graham); diese ist aber, von Jenny Ogilvies recht statischer Bewegungsregie abgesehen, kaum erkennbar.
Fantastisch anzusehen sind hingegen die Videos von Will Duke, mit denen sechs riesige und bewegliche LED-Paneele im Bühnenbild von Roy Spahn bespielt werden – wie diese für stets wechselnde, dreidimensionale Raumeindrücke genutzt werden, ist wirklich sehenswert. Zwischen den ästhetischen (einmal poetischen-pastelligen und dann wieder sehr bunten) Projektionen wird auch schönstens die Entwicklung der Schrift über die Jahrhunderte gezeigt, was der Komponistin ebenso ein Anliegen war wie das Engagement von Rei Kawakubo als Kostümdesignerin. Letztere hatte allerdings schon bessere Ideen als das auf der Staatsopernbühne Gezeigte. Dort, wo es eher schlicht bleibt (bei Chor, Kinderchor und Sixties-Outfits) überzeugen die bis ins Birnenförmige überzeichneten Silhouetten, die charakteristisch für ihren Stil sind. Anderes, etwa das Kostüm der Queen, sieht eher so aus, als wäre es der „Ich bastle ein Outfit aus Müll“-Challenge von Queen of Drags entsprungen.
In Summe empfindet man das Stück dann kaum als „konfrontativ“, wie es Neuwirth selbst charakterisiert, sondern als überlange Anekdotensammlung mit wenigen Pointen, auch wenn Doktoren eine Art Klangschalentherapie mit Percussion-Instrumenten betreiben und ein Boxsack (am Angang und Schluss) zum Schlagwerk wird. Überhaupt hat das Stück dann seine stärksten Momente, wenn der Witz aus der Musik oder musikalischen Zitaten kommt – dass Neuwirth musikalisch grandios sein kann und auch im Sounddesign neue Maßstäbe setzt, wird ihr niemand ernsthaft absprechen. Interessant, wie sie etwa das Eintrudeln des Publikums noch während der Pause musikalisch kommentiert, oder die Zeit in ihrem Orlando in verschiedenen Tick-Tack-Rhythmen vergehen lässt. Auch der Vorgang von Orlandos Schreiben (oder Tippen) wird musikalisch gezeigt; darüber hinaus nutzt sie griffige Zeilen aus der Pop-Musik für ihre Geschichte; das reicht von I want to break free bis zu I can’t stand the rain und Bella ciao, ohne dass es jemals plump wirkt. Zudem komponiert Neuwirth wunderbar für Chor.
Schade nur, dass bei so viel Melodiegefühl die Solostimmen überwiegend rezitativisch bleiben. Immerhin darf Kate Lindsey als Orlando wunderbare klangliche Verwandlungen vorführen. Ihr Mezzo deckt eine breite Palette an Farben ab und demonstriert, wie einfühlsam Neuwirth für Stimmen schreiben kann. Allerdings bleibt die Regie der Titelfigur einiges schuldig, zumindest im Vergleich zur sehr präsenten Erzählerin Anna Clementi (Sprechrolle mit Mikroport). Das übrige, durchaus prominente Musik-Personal (etwa Leigh Melrose als Shelmerdine/Greene) kann nur pauschal gelobt werden; Dirigent Matthias Pintscher, das Orchester sowie die Live-Elektronik-Künstler können nur bewundert werden.
Zu den Jublern für die Ausführenden gesellten sich bei der Verbeugung der Komponistin auch ein paar hartnäckige Buh-Rufer – schade, die Ansätze waren interessant.