Wie weit darf man mit (s)einer Bachinterpretation gehen? Muss man sich zwingend an die Textvorlage, Instrumentierung und Bräuche halten? Nicht unbedingt, scheint die Einstellung des Chorleiters Hansjörg Albrecht zu sein, der das Werk am vergangenen Sonntagabend im Münchner Gasteig dirigierte.
Der Klassiker von Johann Sebastian Bach erfährt in aller Welt bei Profimusikern wie auch Klassikliebhabern und Laien enorme Wertschätzung; für viele gehört dieser Weihnachtssoundtrack ebenso zum Christfest wie Stollen und Glühwein. Umso schwieriger ist es dafür, sich immer wieder von neuem mit dem Werk musikalisch auseinanderzusetzen und ihm bei der alljährlichen Interpretation eine persönliche und interessante Note zu geben. Dieser Aufgabe haben sich der von Karl Richter gegründete Münchner Bach-Chor und das Bach Collegium München unter der Leitung Albrechts trotzdem gestellt – und sie bravourös gemeistert. Mit Simone Kermes, Anne-Carolyn Schlüter, Martin Petzold und Christian Immler waren die Solopartien ebenfalls mit einer Starbesetzung versehen, die wenig zu wünschen übrig ließ.
Dass sich Albrecht mit dem Werk ausgiebig auseinandergesetzt hatte, wurde schnell deutlich. Bereits beim allerersten Choreinsatz ertönten beispielsweise nicht die gewohnten Worte „Jauchzet, frohlocket!“, sondern „Tönet ihr Pauken, erschallet Trompeten!“. Letztere bilden den Eingangschor zu der weltlichen Bachkantate BWV 214, aus welcher der Komponist per Parodieverfahren zahlreiche Chöre und Arien nahezu originalgetreu entlehnte. Nach der anfänglichen Überraschung ging es jedoch mit dem für das Weihnachtsoratorium üblichen Text „Rühmet, was heute der Höchste getan!“ weiter. Diese interpretatorische Freiheit, die sich der Dirigent genommen hatte, mochte so manchem Konzertbesucher missfallen haben. Meiner Meinung nach jedoch war diese gewagte kleine Änderung nicht unangebracht und dem Verständnis des Werkes zuträglich, gab ihm sogar eine weitere Bedeutungsebene.
Im Laufe der sechs Kantaten blitzten immer wieder Momente hervor, die vom persönlichen musikalischen Fußabdruck Albrechts zeugten, ob in musikalischer oder in besetzungstechnischer Hinsicht. Der Choral „Ich steh an deiner Krippen hier“ erklang gänzlich a capella; ein besonders geschickt gewähltes Stilmittel, da der Text in diesem Chorsatz erstmals von solch immenser Intimität und Nähe zum Christkind zeugt. Durchweg nahm sich der Dirigent manche Freiheiten, die zwar im ersten Moment etwas ungewohnt erschienen, aber dennoch dem Verständnis des Stückes dienten und ihm gegenüber Wertschätzung ausdrückten.
Indes wusste der Dirigent seine Musiker geschickt zu leiten. Der Chor, mit seinen etwa 70 Personen ungewohnt groß für Bachinterpretationen, erklang trotz seiner Größe stets überraschend schlank und präzise. An manchen Stellen wurde eben diese besonders rhythmische Genauigkeit den Sängern zum Verhängnis, da teilweise Wörter in den Chorsätzen frühzeitig abgerissen schienen und Phrasen nicht angemessen zu Ende klingen konnten. Trotzdem bewies Albrecht sein besonderes Feingefühl für Wort-Tonbeziehungen, indem er die Choräle so musikalisch und wortorientiert interpretierte, wie man es selten zu hören bekommt.