Die Aufgabenstellung für den 26-jähirgen Dirigenten, Pianisten und Kontrabassisten Lahav Shani hätte wohl nicht schwerer ausfallen können, als er das Pult im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins betrat. Vor ihm die Wiener Philharmoniker, bei denen er am Vortag mit demselben Programm sein Debüt gefeiert hatte und hinter ihm ein Konzertpublikum, dem ursprünglich Franz Welser-Möst mit einem gänzlich anderen Programm versprochen worden war. Sicherlich keine angenehme Situation für den jungen Dirigenten, der in diesem Konzert gleichzeitig auch als Solist zu hören sein werden würde.
Doch war ihm das anzumerken? Nein, davon war keine Spur. Ein junger, selbstbewusster Mann betrat da das Konzertpodium und lieferte eine Interpretation der beiden Werke des Abends, von der manch alter Hase des Konzertbetriebes wohl träumen möchte. Shani mag als Einspringer den Saal betreten haben, aber verlassen hat er ihn als zurecht vom Publikum gefeierter Dirigent einer mehr als gelungenen dritten Soirée der Wiener Philharmoniker.
Wenn die Wiener Philharmoniker Musik von Gustav Mahler aufs Programm setzen, dann darf man sich ein Fest erwarten. In diesem Fall handelte es sich um Mahlers viersätzige Symphonie Nr. 1 in D-Dur für großes Orchester, welche am 20. November 1889 in Budapest noch als fünfsätzige symphonische Dichtung das Licht der Welt erblickte. Diese etwa 50 Minuten dauernde Symphonie hat für die Ausführenden durchaus ihre Tücken, denn sie sprengt, wie alle weiteren symphonischen Werke Mahlers, die Grenzen ihrer Gattung. Dies geschieht nicht nur in der monumentalen Besetzung des Werks, sondern auch der Form, des Inhalts und des Gehaltes.
Dessen war sich Lahav Shani in seiner jugendlich frischen und doch tiefgründigen Interpretation offensichtlich voll bewusst. Seine Stärke lag dabei in der Herausarbeitung von Details, die man so nur selten bei der Ausführung dieser Symphonie hört, und sie sich gleich im ersten Satz hervortaten. In fast schon als dialektisch zu bezeichnender Art und Weise treffen sich in ihm zwei Frühwerke Mahlers, nämlich zum einen die monumentale Märchen-Kantate Das Klagende Lied und zum anderen die Lieder eines fahrenden Gesellen.
Aus einem a, das von fast allen Streichern im Flageolet auszuführen ist (die Ausnahme bilden eine Gruppe der dreigeteilten Kontrabässe), erwächst eine "im Naturlaut" zu spielende Klangkomposition, die geprägt ist von fallenden Quarten. Aus dieser entsteht nach und nach das erste Thema der Symphonie, welches dem zweiten Lied aus den Liedern eines fahrenden Gesellen entlehnt ist. Interessant ist hierbei, wie Mahler mit den Topoi der musikalischen Sprache spielt. So sind die von ihm zunächst für die Klarinette verlangten Kuckucksrufe nicht in einer Terz dargestellt, sondern ebenfalls als Quarte. Außerdem prägt eine Fanfare den gesamten Satz, die nicht zuerst von den in großer Entfernung platzierten Trompeten intoniert wird, sondern von den Klarinetten. Diese Klangwelt imaginierte Shani mit höchster Präzision und viel Einfühlungsvermögen. Vor allem der kurze Übergang zwischen Einleitung und ersten Thema hielt ein kleines Wunder bereit. Er verzögerte nur ganz leicht, um dann das Thema mit Schwung aus dem Solo der ersten Klarinette zu evozieren.