Gleich drei weitere meiner Lieblingskantaten standen mir für die Bachkantate im Juli zur Auswahl: Meine Seel erhebt den Herren, BWV10, Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht, BWV105, und Tue Rechnung! Donnerwort, BWV168. Hätte Erstgenannte rein zeitnah chronologisch durch die Komposition 1724 und Letztgenannte im darauffolgenden Jahr theologisch exakt an die Ihnen im Juni vorgestellte Kantate angeschlossen, entschied ich mich sichtbar für die goldene Mitte.

Zwar mit dem Aufführungstag am 25. Juli 1723 die jahrestechnisch früheste, ist BWV 105 allerdings gleichfalls eine durch den 9. Sonntag nach Trinitatis gelesene Fortsetzung der Strafmacht Gottes und der Sünden der Menschheit, weshalb ich mich darauf bezogen nun etwas kürzer als bei der daher ein wenig ausführlicheren BWV 20 fassen möchte. Jedoch – soweit als inhaltliche Einordnung   – in der vom Gleichnis des ungerechten Haushalters und der Quittung zahlenden Schuld(schein)übernahme Jesu handelnden Lesung, in der die Ehrfürchtigen bei aller Schwierigkeit und dadurch neuen Belastung aufgefordert sind, für ihr Seelen- und Gewissensheil Buße zu tun. Freilich, um in der erfahrbaren Gnade Gottes durch die Erlösung in der Hoffnung auf das Wiedersehen mit Jesus im Himmelreich getröstet zu werden.

Mehr Raum bleibt mir nun denn für historische und musikalische Erörterungen, die wiederum – kleiner Spoileralarm, aber auch nötiger Vorausgriff, um es einmal breiter angebracht zu haben – auf andere Kantaten und ihre Eigenheiten weisen. Ein solches Beispiel ist hier zum einen in der Besetzung des Horns in der Tenorarie „Kann ich nur Jesum mir zum Freunde machen“ gegeben, die für die Gottesgnade fordert, dem ausschließlichen Streben nach mehr Geld (Mammon), dargestellt durch Zweiunddreißigstel der Violine, und den Versuchungen der eitlen Welt zu widerstehen. Es wirft die Frage auf, was Bach – schlicht so im Autograph tituliert (eigentlich auch im Chor) – tatsächlich damit meinte. Wie angenommen, sein spezielles Corno da tirarsi, für das er zum Sommer 1723 eine Reihe Kantaten komponierte und das man zwar als kleines Horn mit Zug für die naturtonfremden Anforderungen nachbauen und spielen kann, wahlweise aber auch wegen seiner technischen Notierung als (Zug-)Trompete verstanden wird und werden muss? 

Wird man schlauer, wenn man sich Bachs Trompeter Gottfried Reiche, dem ich die Kantate im Oktober widmen werde, anschaut, der sich auf seinem Porträt mit seinem Instrument zeichnen ließ? Nicht wirklich, hält er dort doch nur eine angefertigte Trompete nach dem Hass-Vorbild von 1687 in Form eines kleinen Horns in der Hand, sprich ohne in die Länge gezogenen, sondern mit gerolltem Clarin-/Tromba-Lauf, der heute der Machart eines Corno da tirarsi ohne Zug entspricht und jüngst von Graham Nicholson für Aufführungen von Sigiswald Kuijken rekonstruiert wurde. Trotz aller Belege, dass Reiche für sechs nachweislich ausgeschriebene und noch mehr da tirarsi-Partien (vor allem auch bei Bach-Vorgänger Kuhnau) ein Zughorn blies, bleiben also Unwissenheiten, die im Hörbeispiel 1 dazu führten, die Oboe – die gänzlich falsche Variante – zu wählen. Im Hör- und Sehbeispiel 2 ist es dann – am unwahrscheinlichsten bei ähnlichem Klangbild – das Cornetto, während in Nummer 3 (Gardiner) einfach die Trompete erklingt.

Zum anderen ist die Kantate an sich ein Beispiel für die Bach-Rezeption im Verlauf nach ihm, erschien sie 1831 als eine der ersten in der großen Zeit der romantischen Wiederbelebung der Bachkantaten im Druck. Gemäß des Inhalts bin ich Ihnen jetzt zumindest noch die restlichen fünf Sätze schuldig, begonnen mit dem wunderbaren, zweigeteilten Dictum des Eingangschors aus titelgebendem Bitt- und Seufzer-Part (quasi Präludium) sowie der typisch flott gehaltenen Denn-Begründung (Fuge) „vor dir wird kein Lebendiger gerecht“ in kontrastierendem, spannendem und herausforderndem Tonfall. Weiß der Gläubige im Alt-Rezitativ um den Richter, bringt er mit der Sopranstimme in „Wie zittern und wanken“ ohne Bass (erinnern Sie sich an das Fehlen Jesu bei BWV 11?), dafür wieder mit Solo-Oboe und dem Nachahmen der Streicher, die innere Angst zum Ausdruck. Gerade mit Bass und Jesu als „Bürgen“ kann dieser allerdings begegnet werden, wie das ariose Accompagnato-Rezitativ und die oben erwähnte Tenor-Arie zu festigen beabsichtigen. Der Rist-Choral beschließt diese gewandelte Erkenntnis in typisch beruhigender Einkehr für den Moment und den Appell für die Zeit außerhalb des Kirchenraums, in der die Prüfungen lauern. Seien Sie gerne schon einmal auf der Lauer für die nächsten Ausgaben!