Wie vorher mehrfach – zuletzt im November bei BWV49 – versprochen, ist nun die Zeit gekommen, Ihnen mit Wie schön leuchtet der Morgenstern, BWV1, Bachs letzterhaltene März-Kantate näherzubringen (die Trauerode auf Fürst Leopold von Köthen aus dem Jahr 1729 bleibt verschollen). Bevor es jedoch ans musikalische Werk und Eingemachte geht, blüht Ihnen wieder eine etwas weitergreifende Einordnung.

Ebenfalls im Band Freudenspiegel des ewigen Lebens enthalten, dort gleichsam mit dem Verweis auf das Hohelied unter „Ein geistlich Brautlied der gläubigen Seelen / von Jesu Christo jrem himlischen Bräutigam“ eingegliedert, hat Philipp Nicolai – veröffentlicht 1599 – im pestverseuchten Unna einen der berühmtesten Choräle überhaupt zur tröstlichen Aufrechterhaltung des Glaubens an ein Leben nach dem Tod, der Verheißung in Endzeitstimmung, geschrieben. Konkreter Anlass war der Tod seines fünfzehnjährigen Schülers Wilhelm Ernst Graf und Herr zu Waldeck 1598, dessen Titel-Anfangsbuchstaben die jeweils ersten der Wörter der Strophen bilden. Setzte man die Verse in rhetorischen Wortgruppen zudem zentriert untereinander, ergibt sich das Bild eines Kelches.

Fast so schnell wie die ansteckende Krankheit damals, breiteten sich Text und Melodie in der protestantischen Welt aus, dürfte nämlich bereits um 1601 eine dänische Übersetzung existiert haben. Erklären lässt sich das dadurch, dass Nicolai nach der Stelle in der ganz kleinen westfälischen Hansestadt Unna Pastor in Hamburg wurde, der „metropoligen“ Hansestadt schlechthin im Norden, die Handelszentrum war und im Dreißigjährigen Krieg noch florierenderes Drehkreuz werden sollte. Durch allseits benötigte, sich nicht „verfeindet-blockierende“ (zum Teil Amsterdam, Genua, Venedig, Cádiz u.a.) Häfen begehrt, stand Hamburg – neben Schweden, was sich später als zunehmend hilfreich erwies – unter anderem unter besonderem Schutz Dänemarks. Zuvor befand sich das Königreich Jahrhunderte mit der Hanse auf Kriegsfuß und in dauernden Konflikten mit seinem skandinavischen Nachbarn der ehemaligen Nordunion. Mit Kopenhagen verbanden sich nun aber zum Beispiel zwei der stärksten Börsenplätze, deren Bedeutung im handelsflüssigen Nord- und Ostseeraum erheblich war.

Ausbreitung erfuhr Nicolais Choral – neben den protestantischen Hochburgen Mitteldeutschlands, wie Magdeburg – parallel auch in den sächsischen Gebieten. Der Dresdner Musikchef Heinrich Schütz fungierte übrigens zeitweise als Kapellmeister beim dänischen Schwiegersohn des Kurfürsten in Kopenhagen. Fortan entsponn sich eine besondere musikalische Beziehung in den protestantischen Herrscherlanden, über Nicolaus Bruhns, Michael Praetorius, Christian Geist, Johann Hermann Schein, Johann Crüger und dann beispielsweise Dietrich Buxtehude, Johann Kuhnau, Christoph Graupner, Johann Pachelbel und Georg Philipp Telemann, die bis zu Felix Mendelssohn, Niels Wilhelm Gade, Max Reger und darüber hinaus reicht. Sie alle verwerteten Nicolais Choral, vornehmlich als advent- oder weihnachtlichen Schlager. Doch Johann Sebastian Bach, nach einem frühen Orgelvorspiel in Arnstadt, weiteren Verwendungen und kantatenmäßig erstmals mit einer Strophennutzung in BWV172 in Weimar schließlich in Leipzig am 25. März 1725 zum eher abrupten Abschluss seines ersten Choralkantatenjahrgangs ebenfalls passend zu Mariä Verkündigung gegeben, nicht unerwartet am kreativsten.

Dabei referiert er äußerlich simpel wie satztechnisch wieder genial auf die Tradition – und im Ursprung allen Christgedenkens weiterhin natürlich auf Weihnachten bezogen –, indem er einerseits die vor seiner Zeit übliche Besetzung mit zwei Violinen im Concertare und die beiden Hörner aufgreift (die dort noch beliebteren Blockflöten ersetzte Bach diesmal ersatzlos durch Oboi da caccia); und andererseits das Ausgangsmaterial als Input begriff, den Bläsern und übrigen Stimmen eine qualitativ einmalig elegante, freiheitliche, in ganzer Atmosphäre selig-prächtige und in der Länge des Chores auch nicht zu knappe Verwobenheit angedeihen zu lassen. Mit der 12/8-Satz- und instrumentalen Besetzungswahl vereinte Bach zudem die Elemente von Tanz, Festlichkeit und gelassener Zuversicht. Sie prägen auch die dem Tenorrezitativ folgende Sopranarie „Erfüllet, ihr himmlischen, göttlichen Flammen“ mit den beiden Oboen samt Continuo, die – textlich dann am prägnantesten das Hohelied aufnehmend – Vorbild der erwartungsfreudigen gläubigen Seele auf Erden, gleichzeitig zur Morgensternthematik Venus beziehungsweise Maria abgibt. Dabei unterfüttert der leicht dunklere Ton der Da Caccias mit dem Instrumentalbass den diesseits im tiefen Herzen „brünftig“ getragenen Liebesgedanken an Jesu, der den Sopran in höchste Verzückung versprochener höchster jenseitiger Gefilde treibt.

Nach der zwingenden, wiederholenden Einordnung des Basses darauf im Rezitativ, dass die Basis des Morgensterns nicht im Irdischen selbst zu finden, sondern Gott zu verdanken ist, fordert die Tenorarie „Unser Mund und Ton der Saiten“ zu einem obligatorischen Loblied auf. Gesang und Musica sollen sich zu lebenslanger Wertschätzung anheben, natürlich in beibehaltener, dreiklanglicher Einheit aus eben Tanz, Festlichkeit und gelassener Zuversicht. Gemäß des Wortes „Saiten“ begleitet ein purer Streichersatz (selbstverständlich mit Orgelbass) mit herausgehobenem Geigenpaar die entsprechend des Textes froh verzierende oder tonhaltende Vokalstimme. Das Tutti des Beginns beschließt klassisch die Kantate im Choral, das „A und O, der Anfang und das Ende“.