Unser Themenschwerpunkt im Januar betrachtet die Welt der zeitgenössischen Musik durch die Augen von Mitgliedern von Top-Ensembles. Unsere Serie geht weiter mit Enno Senft, Erster Kontrabass der London Sinfonietta.
Warum haben Sie sich dazu entschlossen, sich im Bereich zeitgenössischer Musik anstelle von „Mainstream”-Klassik zu spezialisieren?
Ich sehe mich selbst gar nicht als Spezialist für Zeitgenössisches, eher als Musiker, der glaubt, dass die Musik von heute genauso oft gehört werden muss wie die der Vergangenheit. Mein musikalischer Hintergrund wurzelt in der europäischen Streichertradition, die sich direkt mit vielen Aspekten der heutigen, zeitgenössischen Musik verbindet. Natürlich gibt es jetzt zusätzliche Ansprüche wie moderne, ausgeweitete Techniken, die eine Herausforderung darstellen und oft zeitraubend sind. Das gilt besonders für den Bass in kleineren Ensembles und im Solorepertoire, wenn man es zum Beispiel mit klassischer Kammermusik vergleicht. Ich glaube nicht ans Nischenmusizieren. Als Interpret glaube ich, dass die gleichen Regeln für Musik von Heute und Gestern gelten. Um der heutigen Musik Relevanz zu geben, muss ihre Sprache dem Hörer überzeugend vermittelt werden. Das ist, worauf ich als Musiker hoffe.
Ist es eine größere Herausforderung, zeitgenössische Musik zu spielen? Dauert es für Sie beispielsweise länger, um die technischen Aspekte zu meistern? Empfinden Sie sie als schwieriger zu interpretieren?
Das hängt sehr vom Komponisten ab. Generell aber ja. Es gibt eine ganze Reihe von erweiterten Techniken, die nun zum Standard geworden sind (den ganzen Korpus des Instrumentes zu bespielen beispielsweise, nicht nur die Saiten, oder Multiphonie), aber viele Komponisten erfinden ihr eigenes Repertoire an Techniken auf der Suche nach einem besonderen Klang (wie Büroklammern an den Saiten anzubringen oder einen Paukenschlegel anstelle des Bogens zu nutzen). Manche Stimmen sind rhythmisch auch extrem komplex und man fühlt sich, als brauche man dazu einen Taschenrechner. Bei Uraufführungen gibt es auch keinen Anhaltspunkt und Kontakt zum Komponisten ist essentiell, um herauszufinden, was gemeint ist und was man tatsächlich tun soll! Aufgrund der oft so großen Komplexität der Musik ist es wichtig, sich in einer Aufführung konzentrieren und schnell reagieren zu können. Zeitgenössische Musik fließt nicht immer wie klassische Musik. Man muss im Konzert ultra-aufmerksam und gut vorbereitet sein. Lange und repetitive Stücke (man denke an Reich, Feldman usw.) stellen einen auch vor eine physische, beinahe sportliche Herausforderung.
Glauben Sie, dass Ihre Herangehensweise an zeitgenössische Musik der Art ähnlich ist, in der historische Ensembles Alte Musik angehen?
Da könnte es Gemeinsamkeiten geben, denn beide „Gattungen“ erfordern eine Leidenschaft, die über die gemeine Liebe zur Musik hinausgehen. Manchmal fühlt es sich so an, als müsse man besonders hart arbeiten, um das Publikum davon zu überzeugen, dass das, was man spielt, es wirklich wert ist, gehört zu werden, im Gegensatz zu Mainstream-Musik, wo viele Hörer mit bestimmten Erwartungen kommen (die oft umgestoßen werden).
Wie involviert sind Sie in jedem Projekt? In welchem Ausmaß kann jedes Ensemblemitglied seine Ideen zu dem vorbringen, was gespielt wird und mit wem?
Die London Sinfonietta steht unter einer künstlerischen Leitung, die auf das generelle Umfeld zeitgenössischer Kunst reagiert und Programme erstellt, Kompositionsaufträge erteilt, Solisten und Dirigenten auswählt und dergleichen. Doch unsere Erfahrung als Interpreten spielt dort mit hinein, und das schließt auch unsere Bewertung von Repertoire oder neuen Komponisten und Künstlern ein, mit denen wir arbeiten. Auftragswerke entstehen oft in Zusammenarbeit des Komponisten mit uns Musikern, besonders, wenn wir als Solisten involviert sind. Da wir die Ausführenden sind, gibt es einen natürlichen Dialog zwischen Planern und Musikern, andernfalls würden wir nicht konstruktiv arbeiten. Unsere Mitglieder haben ein vielfältiges musikalisches Leben außerhalb des Ensembles, das unsere musikalischen Persönlichkeiten nährt und essentiell dafür ist, den hohen Standard zu erhalten, der für die Art Musik, die wir machen, notwendig ist.
Wie schwierig ist es, zeitgenössische Musik auf ein Konzertprogramm bzw. in den Konzertsaal zu bekommen?
Es ist generell viel schwieriger als, sagen wir, ein Schubert-Oktett. Es gibt allerdings viele angesehene moderne Musikfestivals und zeitgenössische Musikreihen, die enthusiastische und anspruchsvolle Hörer haben. Und für die braucht man die Überzeugung der Veranstalter und der Verwalter der öffentlichen Gelder, dass zeitgenössische Musik grundlegend in unserer Gesellschaft ist. Ich schätze, in mancherlei Hinsicht bleibt zeitgenössische Musik eine Kunstform in der Minderheit, doch das heißt nicht, dass sie nicht zu Recht besteht.
Verändert sich die Publikumsreaktion auf zeitgenössische Musik? Unterscheidet sie sich von einem Land zum anderen?
Zeitgenössische Musik ist so vielseitig, dass es nichts bringt, zu verallgemeinern. Ein Steve Reich-Programm wird wahrscheinlich in jedem Land ausverkauft sein, doch Abrahamsen, Poppe oder Furrer mögen eher in ihrem eigenen kulturellen Umfeld ansprechen. Vielleicht herrscht unter jüngerem Publikum die Auffassung, dass vielmehr ein Event als „nur“ ein Konzert erwartet wird, mit Visuals oder anderen „Stimulanzen“ wie Verstärkung oder Interaktion. Aber ich weiß nicht, ob das nötig ist. Wenn die Musik selbst interessant und gut ist, werden die meisten Hörer sie als das erkennen und für das schätzen, was sie ist. Deutschland, Frankreich, Österreich, Holland, Italien, Dänemark und Polen sind gute Orte, um aufzutreten.
Welche verschiedenen Ansätze nutzt Ihr Ensemble, um neue Hörer zu erreichen?
Ich glaube, das ist eine bunte Mischung. Musikvermittlung, soziale Netzwerke und andere Kunstformen wie Visuelles oder Electronica, neue Performanceräume oder zugänglicheres Repertoire, all das spielt eine Rolle.
Was war das aufregendste neue Werk, das Sie aufgeführt haben? Können Sie beschreiben, warum?
Da gibt es viele, darunter Haas' In vain oder Poppe's Speicher. Aber vielleicht ist es Dai Fujikuras Kontrabasskonzert, ein Werk von ungewöhnlicher Virtuosität und ungewöhnlichem Charakter. Bevor er es schrieb, kam Dai zu mir nach Hause, um eine Reihe besonderer Klänge und Tricks aufzunehmen, die ich ihm nichtsahnend auf dem Bass zeigte, nur um dann die meisten davon in der finalen Fassung seines Konzertes wiederzufinden. Aber es war anregend, die Musik unter der Leitung des Komponisten umzusetzen, selbst, wenn es mich fast verrückt gemacht hat.
Aus dem Englischen übertragen von Hedy Mühleck.