Trotz seiner geringen Bevölkerungszahl hat Estland einige bemerkenswerte Musiker hervorgebracht. Anu Tali, Kristiina Poska und Maria Seletskaja gehören zu einer Generation estnischer Dirigentinnen, die ihren eigenen Weg in einer Welt gehen, die von Dirigent*innen ein etwas anderes Aussehen – und Verhalten – erwartet.

Kristiina Poska, Anu Tali und Maria Seletskaja
© Kaupo Kikkas

Jede von ihnen hat einen einzigartigen und natürlichen Weg in die Welt des Dirigierens eingeschlagen. Kristiina Poska ist Chefdirigentin des Symphonieorchesters von Flandern. „Es war immer ein Schritt nach dem anderen”, sagt sie. „Ich glaube, alles, was mit Musik zu tun hat, war meine eigene Initiative. ... Es war nicht so, dass ich zehn Jahre alt war und wusste, dass ich Dirigentin werden wollte, ganz und gar nicht, ich habe nur langsam entdeckt, dass das etwas ist, das meins ist.”

Maria Seletskaja, die derzeitige Gastdirigentin des National Ballet of Canada, ist dagegen ausgebildete Tänzerin. Auch sie hatte zunächst keine langfristige Vision: „Als jemand, der von außen in die Welt des Dirigierens kam, habe ich mir wenig bis gar keine Gedanken darüber gemacht, wie weit ich es bringen werde. Die Zweifel und Fragen, die mich umtrieben, waren, wie ich genug lernen kann, damit niemand mit dem Finger auf mich zeigt und sagt, ich sei eine Hochstaplerin, nur eine Tänzerin, die gelernt hat, mit den Armen zu wedeln.” Sie fügt hinzu: „Es gab so viel nachzuholen, dass ich nicht an das endgültige Ziel denken konnte.”

Für Anu Tali, die seit fast dreißig Jahren musikalische Leiterin des Nordic Symphony Orchestra ist, hat die Tatsache, dass sie keinen klaren Weg eingeschlagen und sich selbst kein Etikett verpasst hat, eine gewisse Freiheit ermöglicht. „Ich denke, es ist befreiend, sich nicht entscheiden zu müssen, was man werden will, denn ich glaube, das bringt eine Menge Druck mit sich.” Viele Jahre lang bezeichnete sie sich nicht als Dirigentin, sondern „ich sagte immer ,Ich dirigiere’”.

Anu Tali
© Kaupo Kikkas

Die drei Frauen verweisen auf die reiche Musiktradition Estlands als einen fruchtbaren Boden, auf dem sie als Musikerinnen gewachsen sind. Besonders wichtig war das estnische Musikbildungssystem, das jungen Menschen die Möglichkeit gibt, „Musik von innen heraus zu lernen”, wie Tali sagt. „Jeder Schüler hat Anspruch auf zwei private Instrumentenstunden, zwei Gruppenstunden Solfège und eine Chorsitzung pro Woche”, erklärt Seletskaja. „Was ich absolut erstaunlich finde”, fährt sie fort, „ist, dass der Unterricht buchstäblich für jeden zugänglich ist. In manchen Ländern kann man nur studieren, wenn die Eltern sich jahrelangen Privatunterricht leisten können. In Estland kann man hochqualifizierte Lehrer bekommen, wenn man nur studieren und lernen will.”

In einem kleinen Land aufzuwachsen, hat seine Vor- und Nachteile. „In Estland kann man viele große Dinge schneller erreichen: Die Gesellschaft ist kleiner, die Dinge lassen sich leichter umdrehen”, sagt Tali. „Träume werden schneller erfüllt.” Kristiina Poska, die mit 25 Jahren aus ihrem Heimatland wegzog und 15 Jahre später zurückkehrte, sagt: „Sie kennen das ja – als junger Mensch will man immer woanders hin, weil man denkt, dass dort alles besser ist. Und dann wird man älter, und man spürt, dass die Heimat immer wichtiger wird.” Nachdem sie weggegangen war und nicht mehr zurückkehren wollte, kann sie sich nun nicht mehr vorstellen, woanders zu leben. Selbst wenn sie im Ausland ist, fügt Poska ironisch hinzu, „sind meine Noten immer noch in Estland”.

Kristiina Poska
© Kaupo Kikkas

Tali beschreibt das Aufwachsen in der Sowjetzeit als eine Zeit, die ihr beim Träumen half, da das Feld der Möglichkeiten völlig offen war: „Ich hatte nichts, womit ich mich vergleichen konnte. Das hat mich sehr stark gemacht.” Jahre später, in den berauschenden ersten postsowjetischen Tagen, war Estland „ein freies Land mit großen Hoffnungen und Träumen, das noch keine Fehler gemacht hatte”, in dem sie sich einen Platz schaffen konnte. Im Nachhinein kann sie sehen, wie viele dieser Illusionen in sich zusammenfielen, aber in jenen frühen Jahren, sagt sie, „hatten die jungen Leute ein unglaublich starkes Mitspracherecht, und das hat unser unabhängiges Denken gestärkt.”

Tali ist weit entfernt vom Bild des einsamen Maestros. Sie beschreibt es als „unglaublich intensiv”, vor einem Orchester zu stehen, und empfindet große Freude daran, als Teil einer Gruppe zu musizieren. „Hundert Leute, die zusammen das Gleiche tun, das ist wie ein Mantra, wie ein Gebet, das ist eine unglaubliche Kraft”. Auch für Poska steht dieser „energetische Austausch” im Mittelpunkt ihrer Arbeit. „Wenn man in der Lage ist, zu erreichen ... wie man sich vorstellt, dass dieses bestimmte Stück klingen sollte, und alle surfen auf der gleichen Welle – es gibt nichts Schöneres im Leben als das. Es ist absolut unvergleichlich.”

Maria Seletskaja
© Harrison Parrott

Auch Maria Seletskaja spricht mit großer Herzlichkeit von ihrer Arbeit. „Musik machen zu können, ist die größte Freude. Nach einer Ballettkarriere eine erfüllende Karriere zu haben, seine wahre Berufung zu finden und das Glück zu haben, diese ausüben zu können, ist Gold wert. Ich werde keinen Moment auf dem Podium als selbstverständlich ansehen.”

Die drei Frauen sprechen offen über die Schwierigkeiten ihres Weges, aber auch über ihre vielen Freuden und Triumphe. Tali beschreibt die „ernüchternde” Erfahrung des Dirigierstudiums in St. Petersburg, als sie ihre ersten großen Werke vorbereitete und sich nur schwer vorstellen konnte, wie ein Dirigent die geforderte Energie aufrechterhalten kann. „Am Anfang”, sagt sie, „braucht man alles. Man kann sich nicht vorstellen, dass man das Woche für Woche schaffen kann”. Sie fährt fort: „Wenn man jung ist, steht alles auf dem Spiel. Du denkst, es ist das letzte Mal, dass du eine Chance bekommst. Man hat nicht die Erfahrung, die einem sagt, dass es noch eine weitere Runde geben wird.” Auch Seletskaja hat mit dem täglichen Zeitplan zu kämpfen: „Meine größte Herausforderung ist es, meine Pflichten und Freuden in vierundzwanzig Stunden pro Tag zu quetschen. Ich habe nie genug Zeit.”

Maria Seletskaja dirigiert Tschaikowskys Dornröschen mit dem Estnischen Nationalen Symphonie Orchester und der Geigensolistin Triin Ruubel.

Kristiina Poska beschreibt viele der Schwierigkeiten, mit denen sie auf ihrem Karriereweg konfrontiert war, als innere und nicht als äußere. Sie sieht sich selbst als Perfektionistin, die dazu neigt, „unmögliche Dinge” von sich zu verlangen. Sie fügt hinzu: „Vielleicht kommt hier das Gender-Thema ins Spiel – wir haben diese Bilder im Kopf, wie ein Dirigent aussehen sollte, und dieses Bild ist normalerweise ein älterer Mann, der bestimmte Eigenschaften hat und bestimmte Dinge tut. Ich glaube, ich hatte unbewusst eine bestimmte Vorstellung davon, wie ein Dirigent / eine Dirigentin sein sollte.

„In Estland sagen wir, man hat eine ,Schere’ – einen Konflikt. Auf der einen Seite die Art, wie man denkt, dass man sein sollte, und auf der anderen, wie man wirklich ist. Mich selbst zu akzeptieren, war ein großes Hindernis, das es zu überwinden galt.” Poska weiß jetzt, dass es viele individuelle Wege gibt, als Dirigentin erfolgreich zu sein. „Wenn man gegen seine eigene Natur ankämpft, wird man diesen Kampf am Ende nicht gewinnen.”

Keine der drei Dirigentinnen leugnet, dass sie es als Frauen in einer von Männern dominierten Welt immer noch schwer haben – aber sie betonen vor allem die Entwicklung, die sie in den letzten zwei Jahrzehnten erlebt haben, und ihre Hoffnungen für die Zukunft.

Tali sagt, sie sei dankbar, dass sich die Zeiten geändert haben, aber sie warnt ihre Kolleginnen und Nachfolgerinnen vor Selbstgefälligkeit. „Wenn wir uns als Frauen auf die Seite der Glücklichen stellen, zu den Jungs gehören, akzeptiert werden, dankbar sind, auf der richtigen Seite stehen, dann verändern wir die Welt zum Schlechten.”

Anu Tali dirigiert den Kadettenchor aus Eino Tambergs Cyrano de Bergerac beim Estnischen Lieder- und Tanzfestival 2019.

Poska warnt angehende junge Dirigentinnen davor, zu glauben, dass es einfach sein wird. „Dieser Job ist hart und erfordert volle Hingabe”, sagt sie. „Man sollte seine Unterstützung nicht als selbstverständlich ansehen. Man sollte immer den größten Respekt vor der Musik und der Partitur haben und immer vorbereitet sein, denn Frauen werden oft noch ein bisschen anders gemessen.” Neben dieser sanften Warnung rät sie den Frauen, sich selbst zu vertrauen und gegen den Instinkt anzukämpfen, sich selbst herabzusetzen oder einem geringen Selbstwertgefühl nachzugeben. „Glücklicherweise”, so fügt sie hinzu, kann sie sehen, dass sich dies bei der nächsten Generation junger Frauen ändert: „Es ist schön, das zu sehen.”

Talis Rat für diejenigen, die in ihre Fußstapfen treten, ist herzlich und ermutigend: „Verliert nicht den Mut”, sagt sie. „Lebe dein Leben. Wir Frauen denken oft, dass wir uns selbst Regeln auferlegen müssen – nie dies, nie das, nie eine Familie gründen.” Sie hält diese Denkweise für überholt: „Das Leben hat sich so sehr verändert, für uns alle.” Ihr Rat lautet daher: „Lebe dein Leben in der Musik und mit der Musik, anstatt sie nur als Karriere zu betrachten.”

Kristiina Poska dirigiert Jean Sibelius' Symphonie Nr. 1 mit dem Symphonieorchester Flandern.

Die drei Dirigentinnen beschreiben, dass sie die Fortschritte des jeweils anderen mit Interesse verfolgen, per E-Mail in Kontakt bleiben, sich gegenseitig für neue Möglichkeiten empfehlen, sich gegenseitig unterstützen und füreinander kämpfen. Wie Tali es ausdrückt: „Weil es ein so einsamer Beruf ist, gibt es dir Kraft und beruhigt dich, dass diese Leute die gleichen Gedanken und Zweifel und Träume und Ideen haben. Das macht dich stärker.”


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Dieser Artikel wurde vom estnischen Kulturministerium gesponsert.


Ins Deutsche übertragen von Elisabeth Schwarz.