Hätte Leo Dick die Antigone von Sophokles in eine Oper verwandelt, dann wäre sein Werk nach einer Dreiviertelstunde zu Ende. Kreon hat den politischen Sieg davon getragen, Antigone ist lebendig eingemauert; in der Inszenierung von Blanka Rádóczy zieht sie sich einen schwarzen Müllsack über den Kopf und erstickt. Leo Dick aber lässt in diesem Augenblick die Musik wie in einem rasend schnellen Zeitraffer zurückspulen, was dank der Liveelektronik, die er das ganze Stück über einsetzt, unheimlich wirkt. Antigone erhebt sich wieder, und das Spiel kann von Neuem beginnen, und das tut es auch musikalisch, allerdings mit einer kleinen Veränderung.

Dick arbeitet viel mit Wiederholungen und Variationen. Ganz am Anfang der Oper hatte die Trommel einen leicht aggressiv anmutenden Rhythmus angestimmt, der durch ein Trompetensignal zu einer kriegerischen Assoziation verstärkt wird, ganz der Vorhandlung des Dramas entsprechend, denn zwischen den Söhnen des Ödipus, die in Theben abwechselnd hätten herrschen sollen, war ja Krieg ausgebrochen, in dem beide zu Tode gekommen waren. Da einer von ihnen, Polyneikes, sich aber gegen Theben gewandt hatte, verbot der neue Herrscher Kreon seine Bestattung. Krieg, Konfrontation prägt das Stück. Polyneikes' Schwester Antigone besteht auf eine Bestattung, führt sie selbst durch und wird von Kreon zum Tode verurteilt. Auch musikalisch komponiert Dick hier Gegensätzliches: Darf Antigone – von Carina Schmieger auch in den hochdramatischen Partien stets klangschön und ausdrucksstark gesungen – sich eher in Kantilenen ausdrücken, deklamiert Kreon (ähnlich lyrisch und eindrucksvoll David Kang) eher abgehackt mit großen Tonsprüngen, die Silben oftmals vereinzelnd, als wolle er dem Buchstaben des Gesetzes auch rhetorisch Nachdruck verleihen. Auch für die sieben Instrumente des „Orchesters“ findet Dick zum Teil harsche Klänge. Geigenbögen kratzen auf Holz, Dissonanzen schwellen geradezu körperlich im Raum auf, die Klänge werden immer wieder elektronisch aufgegriffen und als Hall der Livemusik unterlegt so wie ein Gedächtnis an das Vorangegangene, das die Gegenwart prägt. Dicks Musik ist auf subtile Weise symbolisch.

Wenn nun die Geschichte nach dem Zurückspulen der Musik noch einmal beginnt, hat sie eine ganz andere Anmutung. Die Trommel klingt sehr viel versöhnlicher, wird ergänzt durch klanglich weiche Instrumente anstelle der Trompete – und entsprechend verändert sich auch die Handlung. Der Philosoph Slavoj Žižek misstraut der Heldenverehrung, die Antigone durch die Jahrhunderte oftmals erfahren hat, fragt nach, ob nicht auch Kreons Haltung ihre Berechtigung haben könnte, und spielt in seinem Drama Die drei Leben der Antigone nach der bekannten Version zwei Alternativversionen durch. Daraus hat Dick für das JOIN ein Musiktheaterstück komponiert. Das JOIN ist die frühere Junge Oper der Staatsoper Stuttgart, nunmehr untergebracht im Spielort NORD. Während hier sonst eher Oper für ein sehr junges Publikum auf die Bühne gebracht wird, ist dieses Antigone-Tribunal erst ab 16 Jahren empfohlen, wird aber, wie auch die anderen Produktionen, von durchweg jungen Musikern realisiert. So gibt Kreon im zweiten Durchgang nach, Polyneikes kann bestattet werden. Entsprechend kommen sich in der Inszenierung von Blanka Rádóczy, die ähnlich wie Dicks Musik mit kleinen, aber aussagekräftigen Gesten arbeitet, die beiden ursprünglichen Kontrahenten viel näher als zuvor, und Dick findet zum reinen Ausdruck der Musik, er verzichtet hier weitgehend auf Worte und lässt Antigone und Kreon über lange Strecken nur den Buchstaben „a“ singen. Mehr braucht es nicht zum Ausdruck der Gemeinsamkeit. Doch da fühlt sich das Volk hintergangen, tötet Kreon und dessen Sohn Haimon.

Doch auch die dritte Konstellation ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Wieder spult die Musik zurück. Nun ergreift das Volk bzw. der Chor die Herrschaft, der in Dicks Oper weitgehend eine Sprechpartie zu bewältigen hat. Am Ende sind hier Antigone und Kreon die Toten, doch auch das Volk ist nicht glücklich Welche Lösung wäre die richtige? Die Antwort bleibt offen – daher schweigt hier auch weitgehend die Musik, die reine Sprache bestimmt das Ende, und der Zuschauer muss sich seine eigene Meinung bilden.

Regisseurin Blanka Rádóczy hat als Bühnenraum ein Endzeitszenario entwickelt aus Holzbarrieren, abgebröckelten Stahlbetonmauern und einem Vorhang, der die Parteien nicht selten trennt. Dass gleichwohl immer wieder auch Momente der Hoffnung aufkommen, für die vor allem Kreons Sohn und Antigones Verlobter Haimon (anrührend Ida Ränzlöv, die auch den blinden Seher Tiresias verkörpert) zuständig ist, findet seine Parallele in der Musik von Leo Dick, der den Instrumenten Martialisches ebenso wie Lyrisches entlocken kann, und in der Inszenierung, in der immer wieder Figuren zueinander finden können, ehe sie dann wieder vom Schicksal getrennt werden.

Leider hat Dick im ersten Teil die ganze Vorgeschichte und Rechtfertigung des Kreon für seine starre Haltung allzu lang ausgespielt. So dehnt sich nicht zuletzt durch den abgehackten Deklamationsstil, der so gut zu Kreon passt, dieser Teil, ohne allzu viele neue Wendungen zu bringen. Hier hätte Dick deutlich straffen müssen. Dann hätte sein Stück zwar nur eine starke Stunde gedauert, wäre aber in seiner Konsequenz und Präzision perfekt geworden.

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