Während sich Joana Mallwitz auf ihre zweite Saison als Chefdirigentin des Konzerthausorchesters Berlin vorbereitet, setzt sie sich mit der Geschichte ihrer Wahlheimat auseinander. Zusätzlich zu ihrer neuen Position hat die gebürtige Hildesheimerin, die zuletzt als Generalmusikdirektorin am Staatstheater Nürnberg tätig war, im vergangenen Jahr einen Vertrag mit der Deutschen Grammophon unterzeichnet. Sie nutzt diese Plattform nun, um die Arbeit von Kurt Weill in Berlin ein Jahrhundert zuvor zu erforschen.

Joana Mallwitz dirigiert im Konzerthaus Berlin © Simon Pauly
Joana Mallwitz dirigiert im Konzerthaus Berlin
© Simon Pauly

„Ich habe die Musik von Weill gerade erst entdeckt“, sagt Mallwitz. „Ich kannte die großen Meisterwerke, aber vor ein paar Jahren hatte ich zum Beispiel keine Ahnung von den beiden Symphonien, die er so früh in seinem Leben geschrieben hatte. Als ich dann diese Musik entdeckt habe, war ich einfach fasziniert. Ich habe versucht, mich mit allem zu beschäftigen, was Weill geschrieben hat, und habe mir vieles angehört. Zur gleichen Zeit begann ich mit der Planung meiner ersten Spielzeit hier in Berlin mit dem Konzerthausorchester. Es war großartig, all diese Verbindungen zu sehen, und ich hatte das Gefühl, dass es keinen besseren Zeitpunkt und keinen besseren Ort gab, um diese frühen Werke von Kurt Weill zu feiern als hier in Berlin in meiner ersten Saison mit dem Konzerthausorchester.“

The Kurt Weill Album, das am 2. August erscheint, enthält diese beiden Symphonien, gespielt mit dem Konzerthausorchester Berlin, sowie sein berühmtes „gesungenes Ballett“ Die sieben Todsünden.

„Die beiden Symphonien sind nicht so oft in Konzerten zu hören“, sagt Mallwitz. „Wir sehen Weill nicht wirklich als einen symphonischen Komponisten. Er ist nicht auf unserem Radar in der Konzertwelt. Ich scherze über diese Symphonien, besonders über die Zweite: Jeder liebt sie und keiner kennt sie. Orchester lieben sie zu spielen. Das Publikum liebt sie zu hören. Aber niemand kennt [die Erste Symphonie], weil sie so selten aufgeführt wird. Weill selbst hat sie nie live gehört. Er hat sie nie dirigiert – er konnte es auch nicht, weil er ein junger Student war. 

„Die Partitur landete in Italien in einem Kloster, bei Nonnen, die sie vor der Öffentlichkeit versteckten. Die erste Seite wurde sogar herausgerissen, damit der Name des jüdischen Komponisten nicht entdeckt werden würde. Weill gehörte damals in Deutschland zu denjenigen, deren Bücher und Partituren verbrannt wurden – er war wegen seiner jüdischen Herkunft ins Exil gegangen. Die Symphonie wurde erst Jahre nach Weills Tod wiedergefunden, als seine Frau, seine Witwe, Lotte Lenya, im Berliner Tagesspiegel nach Werken ihres verstorbenen Mannes suchte, die noch irgendwo vorhanden waren. Und dann wurde diese Partitur zurückgeschickt und aufgeführt. Die Uraufführung fand erst Jahre nach Weills Tod statt.“

Mallwitz spricht schnell und konzentriert. Eine Suche nach dem richtigen Wort im Englischen (nicht ihre Muttersprache) dauert nie lange und wird präzise gelöst, und Fragen zu anderen Themen scheinen ihren Weg zurück zu Weill zu finden. Sie unterstreicht die Bedeutung, die die Erste Symphonie für Weill hatte, und wie sehr er, selbst als sie am Horizont verblasste, darauf bedacht gewesen zu sein scheint, sie nicht zu vergessen.

„Wir sehen, wie wichtig es für ihn war, dass seine zweite Symphonie den Namen ‚Zweite Symphonie‘ trug“, sagt sie. „Bruno Walter, der die Zweite Symphonie uraufgeführt hat, hat sich in dieses Stück verliebt. Er hat wirklich an dieses Stück geglaubt. Er nahm das Stück überallhin mit. Er hat es in Amsterdam mit dem Concertgebouw Orchester uraufgeführt. Er nahm es mit auf Tournee in die Niederlande. Er brachte es nach New York, zum New York Philharmonic, und später nach Wien. Weill hatte mit dem berühmten Dirigenten Bruno Walter einen echten Mitstreiter.

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Joana Mallwitz dirigiert das Konzerthausorchester Berlin
© Simon Pauly

„Walter versuchte, Weill zu überreden, den Namen zu ändern“, fährt sie fort. „Er sagte: ‚Die Leute werden es nur verstehen, wenn du diesem Stück einen programmatischeren Namen gibst‘. Wie Fantaisie symphonique, so wurde sie in Frankreich genannt. Für die amerikanische Erstaufführung schlug er sogar vor, es Drei Nachtszenen zu nennen. Weill war immer strikt dagegen und sagte: ‚Nein, es ist eine Symphonie‘.“

Es ist bemerkenswert, dass Bruno Walter Weills Musik in so viele Länder brachte, denn Weill selbst lebte später in verschiedenen Teilen Europas und schließlich in den Vereinigten Staaten und passte sich dem an, was er an jedem Ort hörte. „Er ist ein Weltbürger“, sagt Mallwitz. „Er kam von Dessau nach Berlin, dann nach Paris und dann nach New York, und er schrieb in all diesen verschiedenen Stilen, sogar mit den Broadway-Sachen und den Bühnensachen und den Symphonien. Und er hat wirklich all diese Erfahrungen aus seinem Leben in seine Musik einfließen lassen.

„Er kam als junger Mann nach Berlin, um bei Busoni zu studieren. Und er war sehr daran interessiert, wirklich alle alten Wege und Techniken zu lernen - Kontrapunkt und die alten Meister zu studieren. Deshalb begann er mit einer Symphonie. Manchmal frage ich mich, was passiert wäre, wenn Weill Deutschland nicht hätte verlassen müssen, ob sein Leben vielleicht eine ganz andere künstlerische Richtung genommen hätte. Vielleicht hätte er noch viel mehr Symphonien in diesem Stil komponiert, denn das war es, was er anstrebte: die Tiefe der Tradition der klassischen Musik, im Einklang mit ihr zu stehen“.

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Bertolt Brecht und Kurt Weill
© Public domain (c. 1928)

Zwischen den ersten zwei Symphonien lagen 13 Jahre. Als Weill 1934 die Zweite Symphonie komponierte, hatte er gerade erst die Arbeit an den bissig-satirischen Sieben Todsünden abgeschlossen. Die Geschichte zweier Schwestern – die eine von einer Sängerin, die andere von einer Tänzerin dargestellt, mit der Andeutung, dass es sich um zwei Aspekte ein und derselben Frau handeln könnte –, die auf der Suche nach Glück durch die Vereinigten Staaten reisen, aber nur Sünde finden (eine für jede Stadt, die sie besuchen), sollte Weills letzte große Zusammenarbeit mit seinem berühmten Partner, dem Dichter und Dramatiker Bertolt Brecht, sein.

Die sieben Todsünden sind ein Meisterwerk“, sagt Mallwitz. „Ich wollte auf diesem Album nicht nur den Komponisten dieser beiden unbekannten Symphonien zeigen, sondern auch die Seite, die wir von diesen Bühnenmeisterwerken kennen. Die Zweite Symphonie und Die sieben Todsünden wurden zur gleichen Zeit komponiert. Sie sind sich sogar in einigen Motiven, die man hört, ähnlich. Ich fand also, dass das eine gute Verbindung ist, um diese drei Werke in einen Kontext zu stellen.

In der kommenden Saison wird Mallwitz ihr Debüt bei den Berliner Philharmonikern sowie an der Metropolitan Opera in New York City und den Los Angeles Philharmonic geben, dazu kommen Gastspiele in Madrid und Rotterdam. Und sie hofft, dass sie die Weill- Symphonien bald in einem Konzert zu Gehör bringen kann.

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Joana Mallwitz im Konzerthaus
© Simon Pauly

„Ich glaube, das Wichtigste für ihn war, Musik für Menschen zu schreiben, Musik zu den Menschen zu bringen“, sagt sie. „Es war die Botschaft der Musik, den Menschen etwas mitzuteilen, sie dazu zu bringen, sich dafür zu interessieren – vielleicht hat er deshalb später im Leben mehr und mehr Werke für die Bühne und für populärere Genres geschrieben, ohne dabei die Tiefe und Komplexität der absoluten symphonischen Musik zu verlieren. Seine späteren Broadway-Werke klingen wie ein Auszug aus seinen frühen Symphonien.

„Ich glaube, in seiner Ersten Symphonie ging es ihm um diese reine Idee der Menschlichkeit, um ein Volk, das Frieden findet“, fährt sie fort. „Er hatte wirklich diese Botschaft, die er übermitteln wollte. Und deshalb hat diese Symphonie, mit all ihren seltsamen Winkeln und Komplikationen, eine sehr unmittelbare Ausrichtung auf das Herz der Zuhörer. Und man spürt beim Zuhören, dass sie so ehrlich ist. Sie ist so roh. Es gibt darin keine Effekthascherei. Ihm lag diese Botschaft wirklich am Herzen, und das macht sie so unglaublich stark.

„Wir haben keinen Brief von Weill, in dem er die Bedeutung der Ersten Symphonie umreißt. Wir wissen jedoch, dass es eine enge programmatische Verbindung zu einem Theaterstück von Johannes R. Becher gibt“, fügt sie hinzu. „Aber ich bin der festen Überzeugung, dass es Weill in Anlehnung an Bechers Stück vor allem um diese Idee der Menschlichkeit, des Friedens ging. Von einem Volk, das nach Frieden sucht. Etwas, das man erreichen möchte, aber nicht wirklich erreichen kann. Man kann ihn nicht fassen, aber dennoch glaubst du an ihn. Und dieser Glaube lässt einen in all den Turbulenzen dieser Symphonie nicht mehr los. Ich finde, man kann diesen Glauben, diese Gewissheit, im letzten Akkord der Symphonie hören.“ 


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Dieser Artikel wurde von Deutsche Grammophon gesponsert.


Ins Deutsche übertragen von Elisabeth Schwarz