Das Ende wird bereits während der Ouvertüre vorweggenommen: In einem Operationssaal sezieren Ärzte eine Leiche, eine Frau erlebt bei der Verifizierung des Toten einen Schock, und zwei Polizisten führen einen Häftling ab. Die Leiche ist Graf Riccardo, der Häftling dessen Gefolgsmann Renato, die Frau Amelia, Renatos Gattin. Bei Giuseppe Verdis Melodramma Un ballo in maschera handelt es sich im Kern um eine private Dreiecksgeschichte: Riccardo liebt Amelia, die Ehefrau seines besten Freundes Renato. Dieser entdeckt die vermeintliche Untreue und rächt sich, indem er den Nebenbuhler bei einem Maskenball umbringt. Die im Libretto etwas schwammig dargestellte politische Situation besteht darin, dass die Regentschaft des Grafen von einer Verschwörergruppe bedroht wird. Indem Renato sich den Rebellen anschließt, verbindet er das Private mit dem Politischen.
Musikalisch demonstriert das Stück eine sogar für Verdi erstaunliche Vielfalt an Ausdrucksarten: Sie umfasst gleichermaßen Leidenschaftliches, Komisches, Dämonisches, Unheimliches und Tänzerisches. Wer diese Oper erfolgreich auf die Bühne bringen will, braucht also einen erfahrenen Dirigenten, ein Orchester, das dessen Intentionen umsetzen kann und selbstredend drei starke Sängerfiguren.
Bei Adele Thomas' Neuproduktion von Un ballo in maschera am Opernhaus Zürich sind alle diese Voraussetzungen bestens erfüllt. Unter der Stabführung von GMD Gianandrea Noseda bietet die Philharmonia Zürich bei der Premiere authentischen Verdi-Klang. Charles Castronovo, der US-amerikanische Tenor mit sizilianischen Wurzeln, ist für die Hauptfigur des Riccardo wie geschaffen. Er, der die Rolle schon in München und an der Metropolitan Opera gesungen hat, verkörpert auf der Bühne den typischen italienischen Liebhaber. Das Staatsmännische liegt ihm nicht, er lebt ganz aus dem Augenblick, verdrängt die Morddrohungen mit Lachen. Moralische Skrupel schiebt er erst einmal zur Seite, sucht dann aber doch noch einen Ausweg aus der vertrackten Dreieckssituation. Allerdings zu spät! Sein Instrument der Verführung ist seine betörende Tenorstimme, eine schöne Mischung von lyrischen und dramatischen Elementen.
Die Italienerin Erika Grimaldi, die nicht weniger als zehn Verdi-Partien, darunter Aida und Desdemona, im Repertoire hat, ist in Zürich in ihrem Rollendebüt als Amelia zu erleben. Mit dramatisch orientiertem Sopran und extravertiertem Temperament realisiert sie die Ambivalenz ihrer Rolle zwischen Pflicht und Neigung ausgezeichnet. Besonders ergreifend kommt dies im zweiten Akt in ihrer Arie „Ecco l’orrido campo“ und im anschließenden großen Liebesduett mit Riccardo zum Tragen, aber auch in der Auseinandersetzung mit Renato im ersten Bild des dritten Akts.
Der rumänische Bariton George Petean, an den großen europäischen Häusern zu Gast und ebenfalls ein passionierter Verdi-Interpret, gesellt sich kongenial zu den beiden anderen Hauptdarstellern. Überzeugend stellt der den Wandel Renatos vom Freund zum Feind Riccardos dar, unterstützt durch ein eher dunkles Timbre, das diese Entwicklung vorausahnen lässt.
Bei den kleineren Gesangsrollen müssen gewisse Vorbehalte gemacht werden. Agnieszka Rehlis gibt die Wahrsagerin Ulrica zwar mit einer durchaus passenden dunklen Mezzo-Stimme, erscheint aber in ihrem Charakter zu wenig dämonisch. Sie ist es ja, die Riccardo durch Beschwörung finsterer Mächte seine bevorstehende Ermordung voraussagt. Andererseits stellt Katharina Konradi in der Hosenrolle des Pagen Oscar, den sie als bebrillten Nerd darstellt, das komische Element zu wenig heraus. Dieses findet sich dann unverhofft bei den beiden Verschwörern Silvano (Steffan Lloyd Owen) und Samuel (Brent Michael Smith), die stets als eine Art von siamesischen Zwillingen auftreten.
Gianandrea Noseda, der in Zürich nach seinem Ringzyklus wieder zu seinem geliebten Verdi zurückkehren darf, koordiniert die Protagonisten auf der Bühne und das Orchester im Graben ausgezeichnet. Nur der Chor der Oper Zürich singt bisweilen arg hintendrein. Die Vertrautheit des Dirigenten mit der Partitur zeigt sich insbesondere im Herausarbeiten der unterschiedlichen klanglichen Sphären. Die unheimlichen Klänge der Wahrsagerin-Szene, der Mitternachtsspuk beim Liebesduett oder die Gleichzeitigkeit von Ballmusik und unheilverkündendem Dräuen sind drei Beispiele dafür.
Als Regisseurin wurde zum zweiten Mal die aus Wales stammende Adele Thomas verpflichtet. In Zürich kennt man sie bereits seit ihrer Inszenierung von Il trovatore, bei der sie ebenfalls mit Noseda zusammengearbeitet hatte. Bei Un ballo in maschera bringt Thomas die zensurierte Zweitfassung auf die Bühne, die in Boston spielt. (Verdi wollte ursprünglich ein Stück über den bei einem Maskenball ermordeten schwedischen König Karl Gustav III. schreiben.) Riccardo ist Gouverneur von Bosten. Es ist gerade Wahlkampf, und Renato agiert als Kampagnengehilfe. Im Senat bekämpfen sich Anhänger und Gegner Riccardos. Konkrete Anspielungen auf den eben vergangenen Präsidentschaftswahlkampf in den USA versagt sich Thomas glücklicherweise.