Streichquartette gelten in Fachkreisen als philosophische Diskurse in Tönen. Doch wie lebendig diese vermeintlich „absolute Musik“ klingen kann, belegte einmal mehr das in der zweiten Geige kürzlich umbesetzte Belcea Quartet bei seinem jüngsten Gastspiel im Pierre Boulez Saal in Berlin.

Eröffnet wurde das Konzert mit Bartóks Erstem Quartett. Das Belcea Quartet legte weniger Gewicht auf die Darbietung einer freien Fuge, als darauf, einen fahl getönten, tristanesken Klagegesang zu Gehör zu bringen. Fast schüchtern, zumindest nicht molto-espressivo, intonierte Corina Belcea den Dux, der von jedem Instrument mit einer anderen Tönung beantwortet wurde. Doch diese Antworten waren letztlich keine, weil sie an diesem Nachmittag nur wie Echos zurückhallten. So herrschte zwar eine kantabel gesungene Mehrstimmigkeit, letztlich aber doch verzweifelte Orientierungslosigkeit vor. Die nur kurz anklingenden Motive nahmen erst später im Werk Gestalt an – so auch die so klangschön wie verheißungsvoll von Antoine Lederlin intonierte pentatonische Melodie.
Im zweiten Satz hielt das Belcea Quartet das allmähliche Accelerando im Tempo deutlich zurück, wohl, damit sich im letzten Satz das Allegro mit allem Feuer entfalten konnte. Nun konnten im gekonnt artikulierten Hauptthema endlich die sich bislang mehr um sich selbst windenden Ostinato-Figuren der beiden vorigen Sätze fassliche Gestalt annehmen. Auch ironische Töne wurden, wie im grotesk vorgetragenen Fugato, hörbar. Das pentatonische Volksliedzitat war als Pallativ zu vernehmen, wurde aber zu Recht nicht mit falschem Pathos aufdringlich musiziert, sondern eher wie ein zurückhaltender Hoffnungsschimmer vorgetragen – so wie überhaupt das gesamte Quartett in glänzend disponierter, präzise abgestufter Dynamik dargeboten wurde.
Bevor das Belcea Quartet Julian Andersons Streichquartett Nr. 4 von 2023 spielte, trat der Komponist selbst auf das Podium und sprach einführende Worte zum Werk. Das war sehr hilfreich, denn ohne diese Erläuterungen, wäre die Musk vermutlich an den Ohren vorbei gerauscht. Ein paar Töne wurden vom Violoncello hingehaucht, ein paar von der Violine fein gezupft – dann wurde es schrill. Diese Geräusche haben einen Hintergrund: Anderson hatte in ihnen die Geräusche nachgeahmt, die bei Kurzwellen-Empfang im Radio der 1980er Jahre zu hören waren. Also erklangen dort letztlich in aller Sorgfalt intonierte Störgeräusche! Im zweiten Satz intonierte Bratschist Krzysztof Chorzelski vorsichtig, wie aus dem Hintergrund, aber sehr gesangvoll, goralische Fiedelmusik. Sie klang, wie vom Komponisten gewünscht, wie die Aufnahme auf einer Kassette – also mehr geahnt als deutlich vernommen. Im letzten Satz wurde es ernst. Es ertönte ein getragener Trauergesang für die Opfer der Solidarność, der in aller Breite zelebriert wurde.
Mit Beethovens Es-Dur-Quartett Op.127 stand ein Werk auf dem Programm, mit dem das Belcea Quartett schon mehrfach in Berlin zu hören war. Zu Beginn, im Maestoso, reagierte das Ensemble genau auf die von Beethoven gesetzten Sforzati, die so oft missachtet werden, und machte so nicht allein den Rhythmus der französischen Ouvertüre hörbar, sondern auch, dass Beethoven ihn ganz falsch in den Takt gesetzt hatte. Im Anschluss daran ließen sie in zärtlicher Intonation das Hauptthema wie ein Naturgewächs aufblühen. Auch in den beiden Wiederholungen klang die Maestoso-Akkordfolge wie eine Ruine aus überlebten Zeiten, wurde dann aber nur noch einmal sacht angedeutet und verschwand dann völlig aus der Musik.
Höhepunkt des Konzerts war dann für mich das Adagio. Mit den ersten Takten betrat das Belcea Quartett regelrecht „Allerheiligstes“. Corina Belcea trug das Thema der Variationen als unendliche Melodie vor, und ließ jede Durchgangsnote beredt klingen. Dann entfernte sich das Ensemble vom Thema und ließ es in der zweiten Variation regelrecht schunkeln, weil Beethoven sie auch im Divertimento-Stil komponiert hatte. Schließlich lösten die Musiker*innen die Konsistenz des Themas auf. In der angedeuteten Fugenexposition im Scherzo warfen sie einander Dux und Comes in Original und Umkehrung leichtfüßig zu, während sie im Trio in einem aberwitzigen Tempo die Parodie eines Tanzsatzes vorbeihuschen ließen. Das Finale wurde zunächst wesentlich konventioneller als die vorigen drei Sätze vorgetragen. So sparte sich das Belcea Quartet die Schluss-Pointe auf, in der sie mit aller technischen Raffinesse die eröffnende Begleitfigur sich schwebend aus dem Werk zu entfernen haben, so als hätte sich die Musik nun erst ganz und gar von allem Ballast befreit, der in den ersten Takten des Quartetts noch auf der Musik lastete.