Beethovens Messe in C-Dur steht in ihrer Wirkungsgeschichte eindeutig im Schatten der Missa solemnis. Während dieser die Aura eines genialen Vermächtnisses anhaftet, gilt das sechzehn Jahre vorher komponierte Schwesterwerk vielen als konventionelles Gesellenstück. Dabei hatte Beethoven 1807 bereits vier Symphonien komponiert. Und bei der legendären Wiener Aufführung vom 22. Dezember 1808 wurden neben Teilen der C-Dur-Messe (deren Uraufführung in Eisenstadt stattgefunden hatte) auch die Vierte und die Fünfte Symphonie, das Vierte Klavierkonzert sowie die Chorfantasie uraufgeführt.

Giovanni Antonini © Federico Emmi
Giovanni Antonini
© Federico Emmi

Das heutige Publikum hat weniger Sitzleder. Mit ihrer Aufführungsdauer von knapp 45 Minuten ist die Messe für einen Konzertabend dann doch zu kurz. Man muss noch etwas dazunehmen – aber was? Giovanni Antonini, der von der Tonhalle-Gesellschaft als Gastdirigent eingeladen worden war, entschied sich für Haydns Symphonie in d-Moll mit dem Beinamen „Lamentatione”. Die auf den ersten Blick befremdende Kombination erweist sich bei näherer Betrachtung als sehr stimmig. Beethoven, der in seiner frühen Wiener Zeit Kompositionsschüler Haydns war, kannte dessen sechs grosse Messevertonungen bestens, und seine Messe in C-Dur ist der gelungene Versuch, aus dem Schatten seines Lehrers herauszutreten. Zudem hat auch Haydns Symphonie in d-Moll einen latenten geistlichen Hintergrund, zitiert sie doch in den ersten beiden Sätzen Melodien aus dem Offizium der Karwoche: Trauermusik zum Karfreitag also.

Drittens – dies ist für den Kritiker der interessanteste Punkt – lieferte Antoninis Interpretation dieser Symphonie den Schlüssel für seine Deutung der C-Dur-Messe. Dazu muss man wissen, dass Antonini im Rahmen des ambitionierten Projekts „Haydn 2032”, zusammen mit seinem Barockorchester Il Giardino Armonico und dem Kammerorchester Basel, dem er als Erster Gastdirigent vorsteht, bis zum 300. Geburtstag Haydns sämtliche Symphonien des Klassikers auf Tonträger einspielen wird.

Nun ist das Tonhalle-Orchester Zürich weder mit dem Originalklangensemble noch mit dem Kammerorchester Basel, das eine starke Affinität zur Alten Musik hat, zu vergleichen. Aber das Tonhalle-Orchester besitzt eine erstaunliche Fähigkeit zur stilistischen Anverwandlung, wenn es denn von einem inspirierenden Dirigenten geführt wird. Antonini gelang es tatsächlich, den Musikerinnen und Musikern ein Quantum des Geistes von „Haydn 2023” einzuhauchen. Energisch und relativ trocken erklang der erste Satz, melodisch und doch nicht sentimental das Adagio und recht widerborstig das Menuett, in dessen Trio die dritte Zählzeit des Dreiertaktes penetrant hervorgehoben wurde.

Beethovens C-Dur-Messe erschien in Antoninis Dirigat sowohl als Weiterführung wie auch als Überwindung von Haydns Komponieren. Sie hörte sich sozusagen als Mittelstation zwischen den grossen Messen Haydns und der Missa solemnis an. Das Kyrie beispielsweise atmete in seinem relativ schnellen Tempo, der schlanken Tongebung und dem unpathetischen Charakter puren Haydn'schen Esprit. Im Gloria mischte der Dirigent Beethoven’sche Dramatik (im ersten Abschnitt) mit Haydn’scher Virtuosität und Formelhaftigkeit (in der Schlussfuge). Eine Vorausahnung der Missa solemnis bot schliesslich das Agnus Dei in der Herausarbeitung seines bekenntnishaften Charakters.

Die grosse Wirkung der Wiedergabe wäre nicht möglich gewesen ohne die starke Leistung der von Martina Batič einstudierten Zürcher Sing-Akademie. Das 2011 gegründete Profi-Ensemble hat sich inzwischen über die Schweiz hinaus einen Namen als künstlerisch vielseitiger Chor gemacht. Die 36 Sängerinnen und Sänger begeisterten sowohl bei emotionalen Passagen wie dem „Crucifixus” als auch bei halsbrecherischen Abschnitten wie der Vivace-Fuge „Et vitam venturi saeculi” am Schluss des Credo. Das Solistenquartett mit der Sopranistin Christina Landshamer, der Altistin Marie Henriette Reinhold, dem Tenor Maximilian Schmitt und dem Bass Florian Boesch gefiel durch übereinstimmende interpretatorische Gestaltung und die (von der Komposition durchaus vorgegebene) leichte Führung der Sopran- und der Tenorstimme. Den schönsten Eindruck hinterliess das Quartett im Benedictus, dessen Spannungsbögen es im Wechselgesang mit dem Chor eindrücklich nachzeichnete.

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