Eigentlich war der Versuch, den Besuchern das nicht-klassische Repertoire über ein wohlvorbereitetes Interview mit Barbara Hannigan schmackhaft zu machen, unnötig. Allerdings erfuhr man von der ausgezeichnet verständlichen, eloquenten Sängerin und Dirigentin Wissenswertes zu ihrem Verhältnis zur Rolle der Lulu, einer Frau, die Anerkennung, ja Zuneigung verdient, weil sie trotz der Widerwärtigkeiten in ihrem Leben ihre Selbstachtung bewahrt – im Gegensatz zu den Leuten, denen sie begegnet.

Berg setzt die Schlüsselstelle der Oper, das Lied der Lulu ins Zentrum seiner Lulu-Symphonie, an deren Ende (und demjenigen der Oper) die Worte der Gräfin Geschwitz stehen, an die Protagonistin im Jenseits gerichtet. Das Eröffnungsstück des Konzerts, das bekannte und einst revolutionäre Atmosphères von Ligeti, sieht Hannigan als jetzt der „Symphonie-Suite“ von Berg „vorangestelltes Postludium“, sozusagen ein Blick ins Jenseits nach den Geschehnissen in der Oper. Oder ein Blick aus dem Jenseits auf das, was einmal war?

Ligetis Atmosphères ist ein bewusst strukturarmes Stück, ein Kontinuum für 89 Musiker, ein Klangcluster aus knapp 90 Einzelstimmen eines reichen Instrumentariums, das sich in Wellen zu einem einzigen, großen Bogen formt. Da ist kein Rhythmus, (außer sich aleatorischen Fragmenten) keine Melodie; Töne treten meist fließend, unmerklich hinzu, selten hört man einen konkreten Einsatz, etwa, wenn die Musik nach dem Entschwinden in höchste Höhen in der Tiefe unvermittelt neu ansetzt. Es entfaltet sich ein breites Spektrum zwischen kaum hörbaren Klängen, Blasgeräuschen wie Meeresbrandung oder Windrauschen über das Summen eines Bienenschwarms und Gemurmel einer Volksmenge hin zu einem allumfassenden Dröhnen, dann Rückzug in die Stille. Ferne Erinnerungen, Verklärung, Anklänge an vergangene Schönheit?

Natürlich ist die Musik metrisch notiert, hat einen definierten Ablauf. Barbara Hannigan dirigierte mit fließenden, vor allem seitlich schwingenden Bewegungen, klangmalerisch, angelegentlich den kleinen Finger als Ersatz für einen Taktstock nutzend. Kein Zweifel: sie ist mit der Partitur vertraut, manövrierte das dynamisch bestens austarierte Orchester durch die Komposition. Sie hatte angekündigt, die Berg-Suite attacca zu spielen. Es ging ihr wohl vor allem darum, einen Zwischenapplaus zu unterdrücken. Natürlich mussten auf allen Pulten, ihr eigenes eingeschlossen, die Notenblätter respektive die Partitur gewechselt werden, also dirigierte sie einfach eine lange Generalpause durch, was etwas eigenartig, wenn nicht gar unbeholfen wirkte. Ist eine durchdirigierte Generalpause von einer dreiviertel Minute noch attacca?

Mit Bergs Lulu ist Hannigan natürlich intim vertraut, wenn auch wohl primär von der anderen Seite des Dirigierpultes. Die Musik der Suite fügte sich zwanglos an Ligetis Stück an, trotz ihres ganz verschiedenen Charakters. Ich empfand das Rondo als Oper im Kleinen, ein ruhig pulsierendes Stück, dennoch dynamisch und emotional, in Wellen leidenschaftlich, manchmal dramatisch; klar Zweite Wiener Schule, dennoch von einer dichten, fast schwülstigen Schönheit, mit typisch Berg'scher Melodik. Hannigans Schlagtechnik änderte sich nicht, blieb unkonventionell, führte aber dennoch klar und kontrolliert durch die Komposition.

Der melodiös-vielstimmige und polyrhythmisch-komplexe Folgesatz, Ostinato, eröffnet eine Klangpalette, die diejenige Ligetis noch übertraf – kondensiert auf die halbe Dauer. Für das Lied der Lulu drehte sich die Dirigentin zum Publikum, das Orchester mit seitlichen Armbewegungen führend, dabei ihre Rolle mit tragfähiger, dramatischer Stimme eindrücklich gestaltend, auch höchste Töne mühelos meisternd: Dirigieren und Singen schienen einander natürlich zu ergänzen. Der kurze Variationensatz verwendet volksnahe Themen, beinahe Gassenhauer, erinnert zeitweise an Jahrmarktszenen, vermeidet aber durch seine bunte Polytonalität und reiche Vielstimmigkeit jegliche Plattitüde. Der Schlusssatz kontrastiert dazu mit fast Mahler'scher Breite und Schönheit, steigert sich dramatisch bis zu extremer Leidenschaft. Hannigan kontrollierte die enormen Klangmassen souverän, sang die wenigen Worte der Gräfin Geschwitz zum Orchester hin, blieb aber trotzdem ausgezeichnet hörbar und verständlich. Wie sehr sie sich dabei verausgabt hatte, wurde erst danach ersichtlich.

In Debussys Nuages spürte ich das Blau des Himmels, das Auftauchen und vergehen von Schönwetterwolken, wobei die Musik nie konkret wird. Hier glänzte das Orchester mit warmem, homogenem Streicherton und ausgezeichneten Bläserstimmen. Hannigan konzipierte es als Einleitung zu Strawinskys Symphonie in drei Sätzen, und als solche bildete das kontemplative Werk, das mit Klangfarben spielt, einen harmonischen Bogen formt eine interessante Analogie zur ersten Konzerthälfte.

Strawinskys Symphonie versteckt im Eröffungssatz seine neoklassizistischen Wurzeln hinter einer Motorik, die an Schostakowitsch gemahnt, auch wenn zwischendurch barocke Versatzstücke aufblitzen. Ich empfand die Interpretation als schwungvoll, nie nachlassend, letztlich war ich mir aber nicht sicher, ob nicht eine Prise Agogik die Aufführung noch lebendiger gestaltet hätte. Das Andante erinnerte mich an einen Zettelkasten mit Rokoko-Elementen, vom Komponisten meisterhaft arrangiert und zusammengefügt: Neoklassik in Strawinskys ureigenem Stil, makellos gespielt vom Tonhalle-Orchester, mit klaren Verzierungen. Das Con moto schließlich kam vielleicht anfangs etwas schwerfällig daher, nahm aber mit dem Piú presto Fahrt auf und entwickelte gegen Schluss einen konsequenten Zug. Als einzige Makel im Orchester fielen gegen Ende kurzzeitige Koordinationsprobleme zwischen den sich gegenübersitzenden Violinstimmen auf sowie die dann etwas knapp intonierenden tiefen Blechbläser. Dennoch blieb der Eindruck einer sehr respektablen Aufführung, die der Dirigentin physisch offenbar einiges abverlangt hat!

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