Wer den Text der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens kennt, der darf in David Bintleys Ballettversion, die er für das Finnische Nationalballett kreiert hat, erregende Minuten erleben. Gerade noch war der zweite der drei Geister, die den alten geizigen Misanthropen Ebenezer Scrooge am Weihnachtsabend heimsuchen, umringt von den Armen dieser Welt, die mit leeren metallenen Essnäpfen Nahrung fordern, da finden auf der Bühne zwei Beerdigungen statt: die eine in ärmlichen Verhältnissen mit einem schlichten aus Holzbrettern gezimmerten Sarg, es ist die Vorschau auf den Tod des wegen mangelhafter Ernährung verkrüppelten Sohns Tim von Bob Cratchit, der seinen kargen Lohn in Scrooges Kanzlei als Schreiber verdient; die andere in feudalen Verhältnissen mit einem Sarg aus edlem Holz – der keinen anderen als Scrooge beherbergt. Um ihn trauert niemand.

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Antti Keinänen
© Roosa Oksaharju

Bintley entwickelt hier auf der Bühne in Grautönen ein beklemmendes psychologisches Drama, unterstützt von einer bis zur Bizarrerie reichenden bedrohlichen, phantastisch orchestral verzerrten Musik von Sally Beamish. Der dritte Geist – bei Dickens beschrieben als kaum erkennbare Nebelgestalt – ist bei Bintley niemand anderes als Gevatter Tod, von Florian Modann virtuos in einem aufregenden Danse macabre auf die Bühne gebracht mit Knochenhänden und einem weiten schwarzen Umhang mit Kapuze.

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Johan Pakkanen und Sergei Popov
© Roosa Oksaharju

Mit dieser Szene demonstriert der Choreograph Bintley, wie man ein Stück Erzählliteratur in eine choreographische Szene verwandeln kann, den Gehalt des Textes erfasst und mit genuinen theatralischen Mitteln realisiert. Freilich: diese Szene dauert gerade einmal stark zehn Minuten. Der Rest dieses Balletts erreicht eine solche choreographische Spannung und Tiefe ansonsten an keiner Stelle, und auch Sally Beamishs Musik wirkt eher wie eine Collage aus Anspielungen auf Weihnachtslieder, die sogar auf der Bühne gesungen werden, orchestral aufgedonnerten dramatischen kurzen Passagen und immer wieder folkloristischen Tanzmusiken.

Diese nutzt Bintley denn auch eifrig und ausgiebig, um aus der Handlung um den misanthropischen Helden, der am Ende zum guten Menschen mutiert, ein Tanzstück zu machen, ein „Ballett nach Dickens“, wie er es nennt. Doch was hier an choreographischen Einfällen auf der Bühne zu sehen ist, übersteigt pittoreske Tanzszenen, wie man sie sich nach Art des 19. Jahrhunderts in der Welt des Biedermeier vorstellen mag, nur selten.

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Johan Pakkanen und Samuli Poutanen
© Roosa Oksaharju

Hier dominiert immerhin noch Tanz, und auch wenn die Choreographie nicht unbedingt zum Tiefschürfendsten gehört, was diese Kunstform bieten kann, so hat Bintley doch für die Tänzer eine Vielzahl raffinierter Schritte ausgedacht, die von allen (!) – auch in den Ensembleszenen – fulminant ausgeführt werden. Was mit den Füßen auf dem Parkett zu sehen ist, fasziniert nicht selten, was darüber entsteht, ist freilich weniger mitreißend. Nicht selten ergeht sich der Choreograph in Tanzeinlagen, die häufig einfallslos und wenig inspiriert wirken. Wenn das Ehepaar Cratchit der Trauer über die Erkrankung von Sohn Tim zum Ausdruck bringt, tanzen die Partner einen Pas de deux mit einer von dessen Krücken. Wenn Scrooges Neffe Fred auf seiner Weihnachtsfeier den alten Geizkragen nachäfft, kommt er über eine schwache Parodie nach Art einer Laienspieltruppe nicht hinaus.

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Clark Eselgroth und Yuka Masumoto
© Roosa Oksaharju

Solchen zum Teil zehnminütigen und damit  viel zu langen Tanzeinlagen stehen Schauspielszenen gegenüber, die diesen Stil weiterführen. Die lange Eingangsszene, die am Ende noch einmal aufgegriffen wird, dient mit geradezu belangloser Mimik und Gestik lediglich dazu, das Weihnachtstreiben auf den Straßen szenisch zu illustrieren, mit Händlern, die Kachelöfen durch die Gegend ziehen oder Waren feilbieten und dafür Münzen überreicht bekommen, für die sie sich überschwänglich bedanken. Die Doppelbödigkeit von Böse und Gut, von Diesseits und Jenseits, von Alltags- und Geisterwelt kommt tänzerisch nicht zum Tragen. Sie wird lediglich durch die grandiose Bühne von Anna Fleischle realisiert, die mit wenigen Requisiten wie Schreibtischen, Stühlen, Fensterrahmen und Videoprojektionen ein Changieren zwischen den Welten evoziert, verstärkt durch die raffinierte Lichtregie von Mark Henderson. Ihm gelingt es, den Geist von Scrooges längst verstorbenem Geschäftspartner Marley wie eine gespenstische Gestalt aus einer fremden Welt auf die Bühne zu bringen und den ersten Geist als Zwischenwesen zwischen Kind und ätherischer Lichtgestalt erscheinen zu lassen, das von Zhiyao Chen fulminant auf Spitze fast schwerelos dem alten Geizkragen Szenen aus seiner Kindheit vor Augen führt.

<i>A Christmas Carol</i> &copy; Roosa Oksaharju
A Christmas Carol
© Roosa Oksaharju

Dass auch Johan Pakkanen ein grandioser Tänzer ist, merkt man an einigen Schritteinlagen, mit denen er am Bühnengeschehen teilnimmt, doch ansonsten muss er bis zum Ende weitgehend als grimmiger Alter über die Bühne tapsen.

So ist weniger ein Ballett nach Dickens entstanden als eine mit zahlreichen Schautanzeinlagen folkloristischer Art durchsetzte getanzte Pantomime. Als Stück für die ganze Familie vor Weihnachten mag es angehen, ob man es sich als Stream bis Ostern zu Gemüte führen muss, bleibe dahingestellt.


Die Vorstellung wurde vom Stream des Finnischen Nationalballetts auf ARTE Concert rezensiert.

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