Vierzehn Jahre ist das letzte Aufeinandertreffen Sir John Eliot Gardiners mit den Berliner Philharmonikern nun her; Geschichten über die Zusammenarbeit gab und gibt es immer wieder. Glücklicherweise ist die Zeit aber nicht stehengeblieben. Zufall oder auch nicht (Rattle hörte Gardiner beim Berliner Musikfest 2014), sollte nun der häufig streng gezeichnete Meister der historischen Aufführungspraxis an das Pult zurückkehren. Der hat Rattles neuen Klangkörper, das London Symphony Orchestra, seit Jahren ja um entsprechende Interpretationsfacetten bereichert. Um aber nicht zu sehr die (praktische) Vergangenheit wach zu rufen, hatte er sich für die Rückkehr Igor Strawinsky ausgesucht, obwohl mit Oedipus Rex und Apollon Musagète zumindest Werke der neoklassizistischen Periode auf dem Programm standen. Genau diese übrigens hatte er auch schon mit besagtem LSO aufgenommen, zur gleichen Zeit, als Rattle das Apoll-Ballett mit den Berlinern einspielte. Gute Voraussetzungen also für ein Comeback.
Die streichorchestrierte Ballettmusik mit mythologischem Sujet zur Verkörperung der Tanzkunst interpretierten Gardiner und die Berliner in der überlieferten Besetzungsstärke und Aufstellung. Diese besteht aus im Halbkreis hinter den acht Celli und sechs Bratschen stehenden sechzehn Violinen und vier Bässen. Beginnend mit dem Prolog, der Geburt des Apoll, stilisiert Strawinsky darin die Hochkultur zu Zeiten Ludwigs XIV., indem er technisch und deutlich hörbar eine französische Ouvertüre gestaltet. Gardiner arbeitete diese mit ihren streng akzentuierten punktierten Rhythmen kontrastreich heraus: die Largo-Teile in anschwellender Phrasierung und (wie von Strawinsky betont) starker dynamischer Vielschichtigkeit, das Allegro hochmelodisch mit kräftigen Bässen. Diese Mixtur aus Strenge und Filigranem durchzieht die gesamte Komposition. So wechseln sich auch in folgenden Variationen, in denen die göttlichen Musen vorgestellt werden, elegisch fließende Streicher, runde, ausschleichende Abschlüsse, kurze sforzato-Akkorde und gewaltige Passagen mit solistischen Einsätzen und häufigen, geteilten pizzicato-arco-Elementen ab.
Gardiner kam dabei so vital und frisch, ja tänzerisch herüber, als ob das Werk auf ihn zugeschnitten wurde. Das stringente Ineinandergreifen der linienstarken Struktur von Strawinskys Melodik im cineastischen Gewand der zwanziger Jahre brachten er und das Orchester mit Haltung, Spannung und Fluss zum Ausdruck. Einer Choreographie bildlich vorstellbar, zeichneten sie das Auf und Ab, mit aggressiven Ausbrüchen, dramatisch und immer wieder sammelnd. In der alles aufnehmenden, mitunter wilden Coda vereinigten Komponist wie Interpreten schwebende Luftigkeit und schwelgende Eleganz. Buttrig satte und zugleich herrlich transparente Streicher bestimmten dabei das balancierte, abendliche Klangbild.
Neben Strawinskys Wunsch, ein Ballett zu kreieren, befiel ihn nach Beginn der neoklassizistischen Schaffensperiode das Verlangen, eine längere Opern- oder Oratorienpartitur aufzusetzen. 1925 entstand so die Idee zu Oedipus Rex, ebenfalls aus antikem Stoff, bei dessen Auswahl sich für Strawinsky die Konzentration auf die Handlung erübrigte, um das Augenmerk voll und ganz auf die verarbeitete musikalische Dramatik zu legen. Dem diente auch die zugrunde gelegte, „ans Erhabene rührende“ lateinische Sprache. Librettist Jean Cocteau entwickelte ferner einen karikaturhaften (im Frack livrierten) Evangelisten, der die Rolle des Erzählers in jeweiliger Landessprache des Aufführungsortes mit „teilnahmsloser Stimme“ ausfüllen sollte.