Mehrere hundert Male habe ich das Violinkonzert in D-Dur von Johannes Brahms schon gehört, in unzähligen Konzerten und womöglich jeder Interpretation, die jemals für den Massenmarkt auf Tonträger gebannt wurde. Und doch war auch ich erstaunt, wieviel es in diesem großartigen Meisterwerk noch zu entdecken gibt – dank Julia Fischer, die das Erste und einzige Violinkonzert von Brahms im Münchner Gasteig mit den Wiener Symphonikern unter dem jungen israelischen Shootingstar Lahav Shani aufführte. Allerdings überraschte Julia Fischer nicht, indem sie mit dem Notenmaterial experimentiert, sie muss keine ausgefallene oder selbst komponierte Kadenz spielen. Sie spielte einfach Joseph Joachim; das hat sich bewährt. Warum auch neue Wege gehen, wenn die alten gar nicht so ausgetreten sind, wie man denkt.
Bei Julia Fischer klingt das gleiche Stück selbst beim hundertsten Mal wieder frisch und unverbraucht, gleichsam extemporiert. Es ist schwer zu sagen, woran das liegt, denn Fischer spielt äußerst notengetreu, fast schon bieder, konservativ. Und das ist gut so. Denn sie hat es nicht nötig, auf sich oder die Musik durch mehr aufmerksam zu machen, als die Partitur hergibt. Immer wieder horcht man unwillkürlich auf, wenn sie eine neue unbekannte Nuance herausholt aus irgendeiner harmonischen Wendung, rhythmischen Finesse oder einem Nebenthema, das man ansonsten routiniert überhört hätte.
Der zweite Satz des Brahms‘schen Konzert beginnt mit einer der schönsten Kantilenen der klassischen Musik. Zwar hatte der Solo-Oboist der Wiener Symphoniker einen etwas zu harten Ansatz, machte dies aber mit vollendet runden musikalischen Bögen wett. Nach dem Einsatz der Solovioline und der Weiterentwicklung des von der Oboe vorgestellten Hauptthemas stimmt dann die Violine ein zaghaftes Nebenthema an, das man fast nicht als solches wahrnimmt. Nicht so bei Julia Fischer. Sie phrasierte, akzentuierte, beschleunigte das Vibrato unmerklich. Es entstand ein neues Zwiegespräch mit dem Orchester, mit den Zuhörern, ja mit dem Komponisten selbst, so als wollte sie ihn zuzwinkernd darauf aufmerksam machen, dass er hier etwas aufs Notenpapier geworfen hat, wovon er selbst noch nicht wusste, wie es jemals klingen könnte. Und ist nicht dies das Wesen des Genies, ob Komponist oder Interpret, dass es vermag, ein Sandkorn der verrinnenden Zeit für einen Wimpernschlag zu einem Diamanten zu verdichten? Brahms konnte das, ja er konnte gar nicht anders. In seinem Œuvre findet sich kein Mittelmaß. Und Julia Fischer ist auch so eine Gesegnete, die gar nicht anders kann, bei der selbst der vierte Finger der linken Hand in jeder Lage so spielt wie alle hundert Hände des besten Orchesters der Welt zusammen.