Will er sich einfach einen Spaß machen, dieser John Cage? Des Kaisers neue Kleider im Kontrapunkt, kein Ton für großes Orchester gar, und das fast 5 Minuten lang? 4'33'' hat John Cage 1952 sein Keinklang-Essay genannt, um das Fehlen von Stille zu beklagen und sie in den Mittelpunkt zu heben: mal mit nur einem Pianisten, der am Beginn des Stücks den Tastendeckel zuklappt und am Ende wieder öffnet, in Umkehrung der üblichen musikalischen Logik. Oder mit den reich besetzten Philharmonikern des Staatstheaters und vielköpfigem Publikum wie in Nürnbergs Meistersingerhalle, die erstmals seit Lockdown und Kontaktbeschränkungen wieder voll besetzt war. Ja, das Publikum spielte mit, als Joana Mallwitz dezent den Einsatz gab und auf dem Pult eine Digitaluhr bei 4'33'' rückwärts zu laufen begann. Kein Räuspern, kein Rascheln einer Taschenklappe, nicht mal ein Schnaufen oder Lachen: Stille, geradezu marcato still.
Wirklich kurios ist, dass Cage das Werk eigentlich in drei Sätze, jeder mit der Anweisung „tacet“, aufgeteilt hat. Mallwitz machte die Zäsuren nicht deutlich, allenfalls durch Umwenden eines Notenblatts. Wären in den Pausen vielleicht doch ein paar Huster zu hören gewesen, ungeduldiges Blättern im Programmheft? Jedenfalls eine Erfahrung, die nachdenklich macht: so viel Stille war selten, selbst in zwei Jahren Sperrstunde und Besuchsverbot.
Dass zu Konzertbeginn das Orchester sich sorgfältig einstimmte, hätte manchen Musikfreund verleiten können, doch auf etwas Klang bei Cage zu hoffen. Doch am Ende der viereinhalb Minuten kollektiver Stille ließ Mallwitz attacca György Ligetis Atmosphères für großes Orchester (1961) folgen. Nun also geradezu hochkomplexer Klang, und komplex auch das Notenbild, wenn man in die Studienpartitur schaut: schmal und hoch, Notensysteme bis zu 87 Stimmen türmen sich übereinander; jede Linie repräsentiert eine Stimme im Orchester und folgt einer eigenen, durchaus komplexen rhythmischen Struktur und Tonfolge.
Was optisch im Detail geradezu undurchschaubar erscheint, überrascht beim Hören. Eine große orchestrale Plastik entwickelte sich da, bei der oft alle zwölf Töne, in mehrfache Oktaven vervielfacht, im Raum schwebten und sich zu einem Cluster versponnen. So ist es nicht die Aufgabe der Dirigentin, ein Thema herauszuheben oder Begleitstimmen einer Melodie unterzuordnen. Mallwitz realisierte das gesamte Stück als einzigen, weit gespannter Bogen; die Musik verschmolz gemäß den individuellen Angaben der einzelnen Abschnitte für die Spieler. Dieser Bogen umfasste intensive Crescendi und Diminuendi, reichte von einem flüsternd nebulösen Anfangsklang bis zum finalen Verschwinden ins Nichts, wenn die Saiten eines Flügels am Ende des Stückes mit Bürsten oder Tüchern zum Verklingen gebracht wurden. Ein Stück voll von Klanggemischen, und doch irgendwie nicht greifbar, atmosphärisch dicht, kosmisch still wie auf einem Flug durch die Weite des Alls.