Vielleicht sind zwei Choreographien innerhalb eines halben Jahres für ein und dieselbe Compagnie zu viel, wenn man auch noch eine der wesentlichen Tänzerinnen am selben Haus ist: Was Vittoria Girelli, die bereits beim Creations-Abend des Stuttgarter Balletts im Mai mit einer Arbeit vertreten war, jetzt auf die Bühne brachte, ist zwar nach wie vor von hoher Konzentration, tänzerischer Brillanz, Fantasie und auch gedanklicher Tiefe. An die philosophische Tiefe ihrer existentiell nahegehenden Arbeiten, die sie bislang für Stuttgart kreiert hat, reichen diese Szenen allerdings nicht heran.
So geht sie hier der Frage nach, was das Leben zwischen Menschen ausmacht oder auch ausmachen könnte. Das tänzerische Geschehen ist angesiedelt auf einer gekrümmten Ebene, deren Seitenwände steil in die Höhe ragen. Was unten, gewissermaßen auf der Erde, vor sich geht, ist alles andere als erstrebenswert. Nach einer fast totenähnlichen Starre erwachen die Tänzer allmählich zum Leben, fangen an, sich untereinander kennen-, vielleicht lieben-, aber auch hassen zu lernen. Was Vittoria Girelli – stets orientiert am Bewegungsrepertoire des klassischen Balletts, aber mit Variationen, die in unsere Gegenwart führen – hier zeigt, ist menschliche Existenz in allen ihren wünschens- und ablehnenswerten Facetten – kritisch, skeptisch beäugt von Wesen, die sich aus der Halbhöhe an den steil nach oben ragenden Wänden nach und nach auf die Erde wagen, um den Menschen beizubringen, wie man sich zu verhalten hat, wobei das wahre, weil konfliktfreie Leben sich eher in lichten Höhen abspielt – in der Schwebe gewissermaßen, wie der Titel des Balletts Sospesi nahelegt, wobei neben dem grandiosen Bühnenbild von Francesca Sgariboldi auch die Lichtgestaltung samt Schattenwirkung von Lukas Marian fasziniert.
Ob man von dem tänzerischen Geschehen auf die beiden Inspirationsquellen schließt, die die Choreographin ihrer eigenen Aussage im Programmheft zufolge zu ihrem neuen Stück angeregt haben – das utopisch-gesellschaftskritische Drama Die Vögel von Aristophanes und die skurril bis abstoßend fantasievollen Kreaturen auf den Gemälden eines Hieronymus Bosch –, sei dahingestellt, auch wenn die Tänzer in kurzen Sequenzen gelegentlich tierähnliche Positionen einnehmen, doch sind das ja auch nur die Anstöße zur Kreation gewesen, das Stück ist erfreulicherweise nicht etwa eine Bebilderung dieser Quellen.
Auch Samantha Lynch, Erste Solistin am Norwegischen Nationalballett und wie Vittoria Girelli seit etwa drei Jahren auch choreographisch tätig, hat für ihr neues Stück eine Art „Programm“, das von dem Girellis gar nicht so weit entfernt ist: Auch ihr geht es um das menschliche Leben, in diesem Fall um Gegenwart und Vergangenheit, wie der ein wenig elegisch anmutende Titel nahelegt: Where does the Time Go? Sie führt gewissermaßen zwei Phasen des Lebens vor, das der Erwachsenen und das der Kinder. Zwei Paare absolvieren hierzu jeweils einen Pas de deux, vor allem von Ruth Schultz und Alessandro Giaquinto eindringlich getanzt. Doch choreographisch sind diese zwei Szenen wenig tiefschürfend – mal erinnern sie an künstlerisch überhöhte Tanzabende der 50er Jahre, mal an zaghafte Versuche zweier Figuren, einander kennenzulernen. Das Ganze ist eingebettet in die Szenerie einer Kneipe, in der aus dem Nebenraum das Geschwätz der Gäste zu hören ist, die auf der Bühne zum Teil reglos wie dem Suff ergeben am Tisch hocken. Eine Philosophie der Zeit und ihres Verstreichens ist hier allenfalls am Rande ausgeführt. Immerhin: mit einer knappen halben Stunde Dauer hat die Choreographin genau das richtige Zeitmaß für ihre Arbeit gewählt.
Bei der Beschreibung, die Morgann Runacre-Temple für ihr den Abend beschließendes Stück im Programmheft formuliert, erwartet man freilich, ein abendfüllendes Stück vor sich zu haben. Zum einen greift sie weit in die Vergangenheit der griechischen Mythologie und lässt Hades, den Gott der Unterwelt nebst Persephone, die er ihrer Mutter geraubt hat, auftreten; der Titel des Stücks Averno bezieht sich möglicherweise auf einen See bei Neapel, der in der Antike als Eingang zur Unterwelt galt, aber auch auf den Titel eines Gedichtbandes von Louise Glück, in dem sich ein Gedicht über Persephone findet. Für Matteo Miccini und Mackenzie Brown findet sie dabei gelegentlich zu anrührenden tänzerischen Momenten. Zum anderen trauert verzweifelt die Mutter – gleich vierfach von Tänzerinnen und Tänzern (!) verkörpert – um die verlorene Tochter.

Zum anderen geht es ihr um das Thema Warten schlechthin, wofür sie eine Telefonzelle für ihre Bühne erfunden hat, vor der die Menschen vergeblich auf einen Anruf hoffen. Und weil Hades der Gott der Unterwelt ist, aus der wir unser Öl – und unsere Abhängigkeit von diesem Rohstoff – beziehen, fährt er in einem PKW auf die Bühne und hält neben einer Zapfsäule. Freilich wird sein Gefährt nicht von einem Motor angetrieben, sondern wird von schwarz gekleideten Gehilfen der Unterwelt geschoben. Das mag man zeitkritisch finden, vielleicht auch nicht ohne Komik, doch tänzerisch überzeugend ist das, was sich da – durch die Filmaufnahmen einer Livekamera noch verdoppelt – auf der Bühne abspielt, nicht unbedingt.
So ist ein Ballettabend der grandiosen Stuttgarter Tänzer entstanden, bei dem aber auch die noch überzeugendste Kreation von Vittoria Girelli mit allen von ihr eingesetzten Ausdrucksebenen nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass er choreographisch nicht unbedingt in ewiger Erinnerung bleiben wird.