Der Gashouder ist ein altes Gasometer in Amsterdam. Wegen seiner phänomenalen Akustik dank kreisrunder Decke und von der Mitte ausgehenden Metallstangen als Stützen ist er seit Jahren ein beliebter Konzertort im Rahmen des Holland Festivals. Am Eingang wird das Publikum von Sicherheitsbeamten streng gemustert, denn auch Prinzessin Beatrix (die ehemalige Königin der Niederlande) hat ihr Kommen angekündigt und die besten Plätze sind für sie und ihre Entourage reserviert. Der Rest des Publikums sitzt rund um die Bühne verteilt.

Links, rechts und hoch oben hinter den Zuhörern sind für die anstehende Uraufführung zwei gewaltige Schlagzeuginstrumentengruppen aufgestellt. Robin de Raafs Zweites Klavierkonzert „Circulus”, ursprünglich inspiriert durch Sternbilder am nächtlichen Himmel über Kreta, ist vor allem ein räumliches Klangerlebnis. Die akustische Umarmung des Publikums wird noch weiter verstärkt, wenn die Klänge des Solisten Ralph van Raat im zweiten Teil des einsätzigen Werks von einem zweiten Pianisten (Stefan Kiefer) hinter der Bühne leicht abgewandelt aufgenommen werden und so ein farbenprächtiger Resonanzdialog entsteht.
Das Einbrechen der Nacht und das Aufflackern der Sterne wird auch über die subtile Lichtregie von Peter Romkema sichtbar gemacht. De Raaff: „Ich bin immer auf der Suche nach der Logik des Geschehens, alles muss einen klaren Platz im Ablauf des Stücks haben. Die Musikdramaturgie muss stimmen.”
Und so beginnt Circulus mit lang durchklingenden extrem tiefen und extrem hohen Tönen im Klavier nur begleitetet durch Tamtams und Triangeln und endet in einem eingestrichenen C von Klavier und Röhrenglocken. In der dazwischenliegenden Hörreise entwickeln sich Trillerkaskaden aus allen Regionen der instrumentalen Farbpalette (auch ein Saxophon sitzt im Radio Filharmonisch Orkest). Ein Cellosolo geht in ein Streicherunisono über und van Raat brilliert immer wieder auf den äußersten Tasten seines Instruments.
Das fast 50 Jahre ältere Werk nach der Pause könnte mit seinem stets wiederkehrenden Neruda Zitat, „Venid a ver la sangre por las calles” (Kommt und seht das Blut auf den Straßen), unterschiedlicher nicht sein. Coro hat Luciano Berio für 40 Sänger und 40 Instrumentalisten geschrieben, die paarweise nebeneinander sitzen. Es besteht aus 31 meist in sich abgeschlossenen und oft kontrastierenden Episoden. Die ursprünglichen Texte in afrikanischen, iranischen und amerikanischen Sprachen sind meist ins Deutsche übersetzt (Auftraggeber war der WDR). Berio benutzt daneben auch Französisch, Spanisch, Italienisch und Englisch. Die kurzen Texte sind auf zwei verschiedenen, sich ergänzenden Ebenen angesiedelt: einer volkstümlichen Ebene, die sich auf Texte über Liebe und Arbeit stützt, und einer epischen Ebene (Neruda’s Residencia en la Tierra). Derselbe Text kommt mehrmals mit unterschiedlicher Musik und Solisten vor und dasselbe musikalische Modell kann mit verschiedenen Texten wiederkehren.
Coro beginnt mit einem Lied der Sioux, das von einer Sopranistin in englischer Sprache gesungen und nur vom Klavier begleitet wird. Die ersten Episoden werden meist solistisch von den hervorragenden Sängern des Niederländischen Rundfunkchores (Groot Omroepkoor) in der Einstudierung von Benjamin Goodson vorgetragen. Viele Gesangssolisten stehen für ihre kurzen Soli auf, wodurch sich auch dank der Lichtregie das visuelle Bühnenbild ständig wandelt. Coro wird dadurch zu einem mitreißenden Sinnenspektakel, welches dem Publikum buchstäblich Hören und Sehen vergehen lässt. Matthias Pintscher entwickelt das einstündige Werk mit präzisem Schlag und aufmerksam aufbauenden Einsätzen sowohl für die immer überzeugenden, sehr individuellen Solisten als auch den gesamten Chor- und Orchesterapparat.
„Es gibt nicht nur eine Ebene der Wahrnehmung des Werkes... Je tiefer man geht, desto mehr wird man natürlich belohnt.“ (Berio)