Das Stabat Mater schildert die Leidensgeschichte Jesu nicht, wie die Evangelien, als auktoriale Erzählung, sondern als Versgedicht, das die Perspektive seiner Mutter Maria einnimmt. Der lateinische Text eines unbekannten Verfassers stammt aus dem Mittelalter und fand später Eingang in die katholische Liturgie. Er ist im Verlauf der Musikgeschichte von zahlreichen Komponisten vertont worden; die berühmtesten Beispiele stammen von Pergolesi, Rossini und Dvořák.
Das 1880 in Prag uraufgeführte Oratorium gehört längst zum Standardrepertoire der großen Konzertchöre und Symphonieorchester. Umso erstaunlicher, dass es bei der Tonhalle-Gesellschaft Zürich erst ein einziges Mal auf dem Programm stand. Als ob der Veranstalter dieses Defizit hätte kompensieren wollen, stellte er für die aktuelle Produktion eine Besetzung zusammen, die für Aufmerksamkeit sorgte. Neben dem Tonhalle-Orchester und der Zürcher Sing-Akademie, die seit ihrer Gründung eng mit der Tonhalle zusammenarbeitet, trat ein international gefragtes Solistenquartett auf. Die größte Erwartung erweckte indes der aus Graz stammende Dirigent Patrick Hahn, der vor zwei Jahren für den erkrankten David Zinman eingesprungen war. Der gerade mal 29 Jahre junge Österreicher ist zurzeit GMD in Wuppertal – nicht gerade das Mekka der klassischen Musikwelt – , findet aber in jüngster Zeit zunehmend Beachtung der renommierten Bühnen und Orchester. Unter anderem debütierte Hahn in der vergangenen Saison am Opernhaus Zürich in einer Neuproduktion von Lehárs Lustiger Witwe.
Frischer Wind also für die Interpretation von Dvořáks Stabat Mater. Es gibt eine gerade in Tschechien beliebte Tradition, das Werk als schwülstiges Seelengemälde darzustellen. Hahn hat da eine andere Sicht. Nicht dass die emotionalen Seiten der Komposition zu kurz kämen, aber sie wirken nicht überladen und überzeugen gerade dadurch. Die hauptsächlichen Elemente dieser Deutung sind der Verzicht auf ständige Temposchwankungen und der Mut, auch mal etwas schnellere Tempi anzusetzen. Ein Beispiel für Letzteres wäre die Chornummer „Tui nati vulnerati“, die hier einen geradezu tänzerischen Charakter annimmt.
Die etwa sechzig Damen und Herren der Zürcher Sing-Akademie, von ihrem Leiter Florian Helgath hervorragend vorbereitet, freuen sich sicht- und hörbar an dieser Deutung. Wenn es aber sein muss, können sie auch, wie im Eingangschor „Stabat Mater“, zu einem Aufschrei des Entsetzens sich steigern oder, in der Nummer „Virgo virginum praeclara“, eine entrückte, engelsgleiche Aura aufbauen. In großer Besetzung spielt auch das Tonhalle-Orchester, verlangt doch die Partitur etwa im Blech vier Hörner, zwei Trompeten, drei Posaunen und eine Tuba. Sehr plastisch holt Hahn aus den einzelnen Registern die textentsprechenden Stimmungen heraus. Bei der Begleitung der Solisten müsste er das Orchester aber manchmal mehr zurückbinden.
Die Sopranistin Sarah Wegener, seit letztem Herbst Dozentin für Gesang an der Zürcher Hochschule der Künste, kann Sieglinde in Wagners Walküre singen, kann diese Empathie aber ebenso auf dieses geistliche Werk Dvořáks übertragen. Eine Opernsängerin durch und durch ist die schottische Altistin Karen Cargill. Ihre Stimme hat in der Tiefe unglaubliches Volumen, neigt aber manchmal zu etwas gepresstem Klang. Eine ideale Kombination von Opern- und Konzertsänger verkörpert der deutsche Tenor Benjamin Bruns. Mühelos und ohne Anstrengung erreicht er die Spitzentöne, und zu den lyrischen Tonfällen kann er, wenn es sein muss, auch dramatische Kontraste setzen. Christof Fischesser, den man aus seiner Zeit als Ensemblemitglied am Opernhaus Zürich bestens kennt, überzeugt mit einer warmen, modulationsfähigen Bass-Stimme.