ENFRDEES
The classical music website

Es stand die Mutter schmerzerfüllt: Berliner Philharmoniker mit Dvořáks Stabat Mater

By , 17 October 2023

Der Schmerz der Mütter, er scheint so alt wie die Zeit. Konzertprogramme werden weit im Voraus geplant – und doch erhalten sie manchmal ungeahnte Aktualitätsbezüge. Nur wenige Tage nach dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel und dem Beginn der folgenden kriegerischen Auseinandersetzung steht bei den Berliner Philharmonikern Antonín Dvořáks Stabat Mater auf dem Programm. Eröffnet wird der Abend, der das mittelalterliche Gedicht, das den Schmerz der Gottesmutter Maria um den Tod des gekreuzigten Jesu als zentralen Inhalt umfasst, mit einer Schweigeminute für die Opfer, Kinder von schmerzerfüllten Eltern.

Jakub Hrůša dirigiert Dvořáks Stabat Mater
© Bettina Stöß | Berliner Philharmoniker

Auch Dvořák kannte diesen Schmerz. Sein Stabat Mater ist keine Auftragskomposition, sondern ein freies Werk. Verfasst über einen längeren Zeitraum in den späten 1870er Jahren, in denen der Komponist und seine Frau Anna ihre drei erstgeborenen Kinder innerhalb von zwei Jahren beerdigen mussten, findet es seine Wurzeln in der eigenen Trauer. Scheinbar ewiglich verharrt der Beginn der Komposition auf dem Fis, dem ersten Kreuzton. Er schwirrt in den verschiedenen Orchestergruppen durch mehrere Oktaven, ehe der Klagegesang seinen Lauf nimmt. Über zehn Sätze beschreibt er die Trauer der Mutter Jesu über den Verlust des Sohnes und das Mitleid der Menschen, ehe es in einer ekstatischen Auferstehungsvision kulminiert.

Am Pult steht dafür bei den Berliner Philharmonikern Jakub Hrůša. Mit weicher Zeichensprache und ohne Taktstock führt der tschechische Dirigent das Orchester und den Rundfunkchor Berlin durch das Werk und schafft es dabei, einen allumfassenden Bogen zu spannen. Hrůša findet zahlreiche Zwischentöne in Dvořáks manchmal (allzu groß-) romantischem Werk. Wenig exaltiert und dafür in sich gekehrt, die Facetten der Trauer auslotend ist seine Interpretation. Transparenz und gar Transzendenz stehen im Mittelpunkt. So hält Hrůša die Balance zwischen Trauer und Klage, Mitgefühl und Hilflosigkeit, weiß dabei aber auch die Klangopulenz des Werkes auszukosten. Deutlich ist dem Dirigent dabei die Begeisterung für die Komposition seines Landsmannes anzumerken.

Solist*innen mit den Berliner Philharmonikern und dem Rundfunkchor Berlin
© Bettina Stöß | Berliner Philharmoniker

Es ist eine Begeisterung, die sich überträgt. Die Berliner Philharmoniker scheinen dem Dirigenten auf Schritt und Tritt zu folgen. Dabei müssen sie an diesem Abend häufig in den Hintergrund treten und dem Rundfunkchor Berlin den Vortritt im wohlverdienten Scheinwerferlicht lassen. Wieder einmal beweist das Ensemble, das es zu den allerbesten seiner Zunft gehört. Von schluchzend-leise bis zu grandiosem Klagen – der Rundfunkchor (Einstudierung von Gijs Leenaars) lotet die volle Dynamik der Stimme aus. So wechseln sich Innigkeit und dramatische Ausbrüche immer wieder ab und zeigen so die Bandbreite des menschlichen Seins.

Gut harmoniert der Chor dabei mit den Solist*innen des Abends. Während Corinne Winters mit ihrem warmen abgedunkelten Sopran geradlinig und schlank gestaltet, schafft Marvic Monreal insbesondere in dem finalen Alt-Solo Inflammatus et accensus mit weich-voluminöser Stimme einen spannenden Kontrast. Auch die männlichen Solisten sind ein Paar der Gegensätze: Während Matthew Rose unaufgeregt durchweg auf seinen sonoren niemals übermächtigen Bass setzt, der sich gut einfügt und doch im Solo Fac, ut ardeat cor meum Akzente zu setzen weiß, ist David Butt Philips Gestaltung der Tenorpartie eher operatisch-dramatisch ausgelegt.

Dabei weiß Dirigent Hrůša stets einfühlsam Chor, Solist*innen und Orchester miteinander abzuwägen. Wie ein dunkler, tief-emotionaler Strudel ziehen sie so gemeinsam die Zuhörer*innen in ihren Bann. Doch abgründiger Pessimismus macht sich hier nicht breit: Das traurige Gefühl des Loslassens wechselt sich ab mit lichten Momenten, zwischen den Zeilen ist viel Hoffnung zu hören an diesem Abend. Eine Hoffnung, die die Welt momentan womöglich mehr braucht denn je. Nicht nur im Nahen Osten.

****1
About our star ratings
See full listing
“wie ein dunkler, tief-emotionaler Strudel ziehen sie so gemeinsam die Zuhörer*innen in ihren Bann”
Reviewed at Philharmonie: Großer Saal, Berlin on 12 October 2023
Dvořák, Stabat Mater, Op.58
Berliner Philharmoniker
Jakub Hrůša, Conductor
Corinne Winters, Soprano
Marvic Monreal, Mezzo-soprano
David Butt Philip, Tenor
Matthew Rose, Bass
Rundfunkchor Berlin
A place to call our own: Marin Alsop in Berlin
****1
Robertson conducts the German premiere of Srnka's Superorganisms
****1
Berlin Phil à la hongroise with Seong-Jin Cho
****1
Passion and precision from the Berlin Phil at Carnegie Hall
****1
From Paris to Berlin: Juanjo Mena conducts Tailleferre and Ravel
****1
Near perfect Bruckner from the Berlin Phil at the Proms
****1
More reviews...