Solch eine Klanggewalt kann man nur im Konzertsaal erleben: das Ohr erhält Hilfe vom Auge, um alle eingesetzten Instrumente zu erfassen und vom ganzen Körper, der mitvibriert in harmonierenden Schallwellen. Was mit Rudolf Eschers Passacaglia bombastisch, überrumpelnd, frech und frisch begann und mit den letzten Takten von Debussys Nocturnes auch wieder subtil klangschön endete, war ein Konzerterlebnis der besonderen Art.
Das Concertgebouw Orchester unter Matthias Pintscher feierte seinen seelenvollen Klang an gelebter niederländischer Musikgeschichte mit Rudolf Eschers groß besetztem wuchtigen Orchesterwerk aus dem Jahre 1946, das dieser seinem Kompositionslehrer Willem Pijper widmete. Es beginnt mit einem langen Bassklarinettensolo, einem Lamento mit vielen Anläufen auf eine sehr leise beginnende Begleitung aus dem Orchester, bis zu deren Ende die geteilten ersten Geigen einen Kontrapunkt entwickeln. Danach legen die Celli einen Klangteppich zu dem erst die Flöte, später dann die Oboe ihre Soli geben. Es entfaltete sich ein Spiel der Klangfarben: ein Hornsolo, Hollywoodstreicher und ein Solo des Sopransaxophons, welches mit seiner Eleganz hervorstach. Die Klangorgie erreichte ihren Höhepunkt mit einem massiven Blechbläserchor plus Orgelbegleitung, welche massiv und klanggewaltig aus dem Orchester heraustönte.
Das Hauptwerk dieses Abends war das Zweite Violinkonzert Mar‘eh von Matthias Pintscher. In einem Interview für die Digital Concerthall der Berliner Philharmoniker erklärte der in Marl geborene Pintscher seine kompositorische Entwicklung hin zur Einfachheit. Pintscher möchte angesichts der Überkomplexität der heutigen Zeit Phrasen aussingen lassen und dem Fluss der melodischen Entwicklung Zeit geben, um zu atmen. Seiner Ansicht nach kann jeder Musik schreiben, es gelte aber der Klang. Ihn interessiert die Klangfarbe als Phänomen. Als Dirigent geht es ihm nie darum, nur den Takt zu schlagen; ihn faszinieren vor allem das physische Umgebensein und die Körperlichkeit von Klängen. Genauso wie Gustav Mahler versucht er sich die Sommer zum Komponieren frei zu halten, da seine rege Dirigententätigkeit sonst dafür keinerlei Raum lässt. Pintscher ist nämlich nicht nur ein gefragter Gastdirigent, sondern unter anderem auch Chefdirigent des Pariser Ensemble Intercontemporain. Als aufmerksamer, fleißiger Sammler lässt er sich durch das inspirieren, was er in der Probenarbeit mit den verschiedenen Orchestern hört. Diese Klangerlebnisse sind seiner eigenen Aussage nach die Bausteine, die sein Komponieren generieren.
Sein Violinkonzert aus dem Jahre 2011, welches er vier Jahre später noch einmal überarbeitete, ist Luigi Nono gewidmet, den der heute in New York lebende Pintscher sehr bewundert. Auch mit Nono gibt es Übereinstimmungen. Neben demselben Geburtstag ist das vor allem die Suche nach Mehrschichtigkeit und Vielfältigkeit in einem einzigen Ton. Es geht Pintscher um die Sehnsucht, sich im Leben zu bewegen und in Bewegung zu bleiben und dies in einem einzelnen Ton zu zeigen.