Albrecht Dürers berühmtem Kupferstich Melencolia I aus dem Jahr 1514 ist einer der wichtigsten visuellen Ausgangspunkte für Brigitta Muntendorfs Musiktheaterstück Melencolia, Eine Show gegen die Gleichgültigkeit des Universums (2022). Bühnenbildner Sita Messer stellt für das Holland Festival Dürers mageren Hund als digitales Computerspielzeug und das verwirrend rätselhafte Polyeder als spiegelnden Glas-Vielflächner auf die ansonsten von drei großen Leinwänden dominierte Bühne des Muziekgebouws.

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Melencolia
© Bregenzer Festspiele | Anja Koehler

Die 14 Instrumentalsolisten des Ensemble Modern tragen lange Perücken, haben Flügel auf dem Rücken und erinnern damit ebenso an Dürers 500 Jahre alten Melancholiker wie die langen Kleider der sechs Sängerinnen aus dem Bregenzer Festspielchor.

Melancholie wird auch heute noch sowohl als körperliche Krankheit als auch als Moment der Kontemplation, als Möglichkeit kreativer Gedankenspiele betrachtet. In unserem von ständigem Appgebrauch dominierte Alltag ist hierfür kaum noch Platz.

Muntendorf schrieb Melencolia in der schon fast wieder vergessenen Ausnahmesituation der Coronabeschränkungen als Auftragswerk des Ensemble Modern für die Bregenzer Festspiele 2022. Sie integriert dabei wie in vielen ihrer Werke hochmoderne Technologien wie KI, AR, Live-Elektronik, 3D-Audio in eine provozierende Partitur mit Versatzstücken europäischer Musiktradition, von mehrstimmigem Gesang über Pop bis Karaoke. Ein vom Flötisten Dietmar Wiesner geschrienes Liebeslied (Daisy, Daisy) steht in seiner entwaffnenden Nacktheit ebenso auf dem Programm wie das abschließende Wiegenlied für ein Ungeborenes, in dem Sava Stoianov mit seiner Trompete überirdisch angreifende Flüstertöne zu einer melodiös-samtenen Jazzballade umzaubert, die am Mischpult u.a. mit Babylauten unterlegt werden.

Die Schlagzeuger David Haller und Rainer Römer beginnen die Show mit musikalischem Schattenboxen. Jeder mit einer Beckenhälfte bewaffnet, tanzen sie eine sorgfältig ausgeklügelte Choreographie, in der sich die Instrumente jedoch nicht berühren. Musikalisch effektiver war später das immens virtuose Duett mit Schlagzeugstöcken. In rasendem Tempo schlugen sie wechselweise ihre eigenen Stöcken gegeneinander, um gleich danach diejenigen ihres Kontrahenten zu bedienen. Der kniffligste Moment entsteht in dem Augenblick, als vom Band ein dazu passender Rhythmus eingespielt wird. Das Tempo gibt den ganzen Abend kein Dirigent an, sondern kommt als Klicktrack über Kopfhörer ebenfalls vom Band.

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Melencolia
© Bregenzer Festspiele | Anja Koehler

Muntendorf hat die Ensemblemitglieder während des Probenprozesses zudem noch interviewt und mit deren Stimmen ihren Computer gefüttert. Mittels der bekannten, jedermann zugänglichen Programme künstlicher Intelligenz haben die von ihr eingegebenen Sätze inzwischen ein Eigenleben entwickelt.

So sprechen die Musiker ihre Texte zwar live ins Mikrofon, der Zuschauer hört sie jedoch nicht nur von vorn, sondern auch in leicht veränderter Form von beiden Seiten. In den von Muntendorf und Moritz Ernst Lobeck entworfenen 3D-Audio- und Videolandschaften treten auch verschiedene virtuelle Gäste auf wie der iranische Ney-Anban-Virtuose Saeid Shanbehzadeh. Er sitzt in absurd blauweißem Wölkchenanzug mit schwarzer Designersonnenbrille vor dem Hintergrund einer ausgestorbenen Hochhaus-Silhouette der virtuellen Welt von Second Life und spielt seinen traditionellen Dudelsack mit viel Klamauk und Popstar-Allüre. Die orientalischen Vierteltonklänge, die er seinem hierzulande gänzlich unbekanntem visuell sehr ansprechendem Instrument entlockt, werden von den Ensemblemitgliedern musikalisch kommentiert und nicht selten überwuchert. Zwar konnte so ein abwesender Solist im 3D-Klang erscheinen und mit den anwesenden Musikern zusammenspielen. Für die Zuschauer aber blieb es in dieser hybriden Scheinwelt ein ständiges Suchen und Vergewissern: Höre ich was ich sehe? Sehe ich, was ich höre?

<i>Melencolia</i> &copy; Bregenzer Festspiele | Anja Koehler
Melencolia
© Bregenzer Festspiele | Anja Koehler

Dürers futuristischer Polyeder wird mehrfach von den Musikern über die Bühne geschoben, um am Ende an einem Drahtseil hängend das Scheinwerferlicht blitzend-blendend zu reflektieren. So entpuppte es sich zum Symbol für die menschlichen Sehnsucht nach Erleuchtung und Klarheit mitten in einer immer chaotischer werdenden Zeit.

Melencolia ist ein äußerst komplexes Projekt, das das Potenzial moderner Technologien im traditionellen Format der Oper demonstriert und uns gleichzeitig einen Spiegel vorhält. Wie sehr lassen wir uns durch die sozialen Medien manipulieren und was ist noch Wirklichkeit – selbst im künstlerischen Kontext?

Nach all den fantasievoll kreierten Anspielungen auf unsere heutige Medienrealität war der farbenfrohe und wolkenverzierte Sonnenuntergang am Weg nachhause eine zufällige optimistisch stimmende Referenz an Dürers Zeiten.

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