Im glücklicherweise mit der Zeit gewachsenen Angebotsspektrum der Alten-Musik-Szene hat es sich als notwendig erwiesen, eine Nische zu finden, um als Ensemble hervorzustechen. Coro e Orchestra Ghislieri, 2003 von Giulio Prandi in Zusammenarbeit mit der ehrwürdigen Universität von Pavia gegründet, widmen sich insbesondere der italienischen Sakralmusik des 18. Jahrhunderts. Damit es der Bedeutung der Nische positiv Rechnung trägt, konzentriert es sich vor allem auch auf Niccolò Jommelli, der kirchenmusikalisch bisher eher nur vereinzelt angetastet wurde, während seine Opern etwas mehr Beachtung in der Rezeption dieses Meisters gefunden haben.

Giulio Prandi
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Dass Jommellis Musik für kirchliche Zwecke heute kaum im Ohr ist, mag man zuerst vielleicht mit der weitüberwiegenden privaten Ausübung des katholischen Gottesdienstes erklären, zu dem sich die in dessen Diensten er stehenden Herzöge von Württemberg im Rahmen der evangelischen Verfassung verpflichteten. Eine selten öffentliche, staatspolitische Gelegenheit zur „Kommunikation“ ergab sich schließlich am 1. Februar 1756 anlässlich des Ludwigsburger Requiems für Herzogmutter Maria Augusta, für das Kapellmeister Jommelli die Musik zimmerte. Das Werk bildet in der Verbreitung in jeglicher Hinsicht eine Ausnahme; derartig, dass es gar zur meistgespielten Totenmissa seiner Zeit avancierte. Gleichzeitig liefert die weitaus spätere Überdeckung von Mozarts Requiem den Grund, warum überaus angesehene Kompositionen und Komponisten aus den Augen verloren wurden.

Zweitens erlebte Jommellis Stück trotz einiger Konzerte bisher keine historisch-informierte Einspielung auf CD. Erst dieser Tage fand endlich die Produktion in Antwerpen von Peter Van Heyghen statt. Und Prandis Ensembles pressen das Es-Dur-Requiem jetzt in Toblach auf Scheibe im Anschluss an die Wiedergabe, die bei den Tagen Alter Musik in Herne erklang. Das Motto dort: „Verstehen – Verwirren“. Alles klar soweit?

Renato Cadel
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Nach entsprechenden Forschungen bettete Prandi das Requiem in den Rahmen des damaligen Messritus' zu Ehren der Verstorbenen, begonnen mit dem nur von der Orgel begleiteten Miserere in d-Moll, dessen Psalmverse abwechselnd der antiphon postierte Tutti-Chor samt solistischen Einschüben und die männliche Schola Gregoriana unter Leitung Renato Cadels intonierte. Dessen leichter Tenor sandte schließlich im dienend zurückgenommenen Gebet Inveniat, Quaesumus Domine von der Kanzel der Kreuzkirche die erhoffte Aufnahme der Seele im Reich Gottes aus. Die gregorianischen Antiphonen zogen damit nicht allein die liturgischen, atmosphärestiftenden und Barmherzigkeit einklagenden Abschnitte zu den Sequenzen der Totenmesse ein, sondern machten gleichzeitig das Gerüst und den verwirrenden Kontrast deutlich, in dem sich Jommelli befand. Kompositorisch pflegte er so das päpstliche Traditionsbewusstsein römischen Geschmacks in seine Opernhaftigkeit des galanten Stils neapolitanischen Ursprungs ein.

Diese nämlich eigentlich favorisierte dramatischere Anlage schimmerte bereits in einzelnen Wortausbrüchen und der Arienimitation der Chorsolisten durch, ehe sie im Requiem bei aller Einhaltung der milden, andächtigen, anrührenden und weihevollen Grundstimmung (man höre Mozarts auffällig ähnliche Inspirierungen!) durch das Orchester und das effektgesteigerte Da Capo à la Barockopernarie offensichtlich wurde. Mit diesem Verständnis führte Prandi die durch die angeschlagene Dynamik ausdrucksmäßig mitfühlenden Beispiele des wiegenden Introitus, des turbahaft angerufenen Kyrie oder des trauerüberwindenden Libera Me an ihre Grenzen; letzteres schlussendlich im hauchend-entfliehenden Nichts der ewigen Ruhe. Zuvor befand sich die Seele im Kampf des Jüngsten Gerichts, welches der Chor und die Solisten erst jeder für sich auftat, danach in variierter Paarung: neben dem routinierten Tenor Raffaele Giordanis waren das der trocken-abgrundtiefe Bass Salvo Vitales, der Alt Carlo Vistolis in der beschützend runden Stimme des Ungewissheit fürchtenden menschlichen Schmerzes und der Sopran Sandrine Piaus. Dieser ragte in richterlicher Dominanz an phrasierter Einfühlung und hoffnungsstarker Leuchtkraft heraus. Das ihr requiemgemäß vorbehaltene Benedictus geriet zum durchstoßenden Türöffner in die Herrlichkeit des Himmels. Zündeten beide Violinen nach dem ornamentierten Sprühen der ersten Geigen im von subito-Dynamik überraschenden Domine Deus ein Hosanna-Feuerwerk, erlöste der Coro Ghislieri in doppelreihiger SATB-Aufstellung mit feierlich-angemessener Inbrunst sowohl vom ungewissen Leiden als er auch ehrfürchtig um Gnade bat.

Nicht überraschend dagegen und somit auch nach meinem Empfinden nach dieser eindrücklichen Aufführung verständlich, dass Nietzsche 1888 anerkennend feststellte, Jommellis Requiem komme aus einer anderen Welt als Mozarts.

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