Das 1986 gegründete Südtirol Festival Meran ist eine etwas weniger bekannte, dennoch angenehme Bereicherung zu den großen Festspielen in Salzburg, Luzern oder Aix-en-Provence. Denn auch in Meran sind in jedem Sommer die weltbesten Symphonieorchester und Solist*innen zu Gast. Die kongeniale Kombination des Pittsburgh Symphony Orchestra unter der musikalischen Leitung ihres Chefdirigenten Manfred Honeck gilt als derzeit aufregendstes musikalisches Ereignis auf dem US-amerikanischen Musikmarkt, besonders wenn sie das deutsch-österreichische Repertoire von Gustav Mahler aufführen, mit dem Honeck überaus vertraut ist.

Zunächst bildete das Klavierkonzert Nr. 3 d-Moll, Op.30 von Sergei Rachmaninow den Auftakt. Bereits in den ersten Takten wurde klar, dass Yefim Bronfmans Spiel seinesgleichen sucht. Der amerikanisch-israelische Pianist interpretierte das Klavierkonzert im ingeniösen Austausch mit Honeck, sodass man urteilen muss: Derart intensiv hat man Rachmaninow noch nie gehört. Seine Interpretation war überaus impressionistisch-fließend, den spätromanischen Einflüssen des Werkes entfliehen zu wollen und den Zuhörer*innen ein absolut frisches und bei jedem Einsatz ein stets unerwartetes Konzerterlebnis bescheren zu wollen. Sein Spiel wechselte nahezu launisch zwischen zarter Einfühlsamkeit und virtuosem Ausbruchsdrang. So fügte er sich elegant wie natürlich der ebenso exzentrischen und einfallsreichen Interpretation Honecks, die nur marginal durch die suboptimale trockene Akustik des kleinen Meraner Kursaals geschmälert wurde.
Nach der Pause folgte die Aufführung von Gustav Mahlers Erster Symphonie. Nach jahrelanger Vorarbeit schrieb er diese im Frühjahr 1888 in nur wenigen Wochen nieder. Er befand sich dabei in einem emotionalen Ausnahmezustand. Selbst Österreicher, hat Manfred Honeck seinen ganz eigenen Zugang zu diesem Komponisten gefunden. Der Dirigent spielte in den 1980er Jahren an der Bratsche bei den Wiener Philharmonikern die Werke unter den bedeutendsten Mahler-Dirigenten wie etwa Leonard Bernstein. Honeck verfasste Aufsätze über Gustav Mahler, betrieb Quellen- und Gesellschaftsforschung der damaligen Zeit und sah den Komponisten immer aus der Perspektive seines Wirkens als Dirigenten.
Honeck entwickelte seine musikalische Interpretation weniger aus der romantischen Aufführungstradition heraus, sondern grub viel tiefer im Leben Mahlers, um zu einem wirklichen Urtext, welcher nur der Wahrhaftigkeit der Intentionen des Komponisten dient. Honeck erzielte das Maximum einer authentischen, nah an Mahlers Intentionen angelehnten und streng aus den Spielanweisungen der Partitur entwickelten, musikalischen Interpretation. Die volkstümlichen Weisen, all die Gedichte wie auch Impressionen durch die Naturspiele des Alpengebirges, welche Mahler, wie auch Honeck selbst ihr Leben lang geprägt haben, wurden erlebbar. Dies geschah weniger im Sinne einer historischen Aufführungspraxis, sondern ganz im Geiste Mahlers als zerrissenen Menschen einer vergangen Zeit.
Exemplarisch zeigt sich Honecks unnachahmlich originalgetreuer Zugang am zweiten Satz der Symphonie. Dieser enthält unverkennbare Elemente der Volksmusik: Schroff und ruppig erklang unter seiner Leitung das derbe Urmotiv, die abfallende Quarte. Zurecht, denn Mahler hat hier einen Ländler – einen traditionellen Volkstanz – komponiert, welcher, obwohl im 3/4-Takt stehend, keinesfalls die Süße eines Walzers haben sollte. Erst im sich anschließenden Trio entwickelte Honeck mit dem warmen, singendem Celli-Klang einen Walzer mit bewusst intendiertem und gebotenem Kontrast.
Im Finalsatz „Stürmisch bewegt“ kamen die Qualitäten des amerikanischen Klangkörpers in all seinen Facetten zur Geltung. Die Blechbläser gelten als die besten ihres Landes. Diese bildeten den Nukleus des geschlossenen amerikanischen Orchesterklangs mit außerordentlich exakten und gleichförmigen Dynamikänderungen hin zum ergreifenden, wuchtig sich entladenden Klimax.
Vor über einhundert Jahren weilte Gustav Mahler in Südtirol für seinen Sommerurlaub und komponierte dort seine bedeutendsten Werke wie das Lied von der Erde. Dass eines Tages ausgerechnet das US-amerikanische Pittsburgh Symphony Orchestra in dieser Provinz dank der österreichischen Schule und Tradition Manfred Honecks seine Symphonien mit größtmöglicher musikalischer Authentizität darbieten wird, hat sich der Komponist so vermutlich niemals träumen lassen.