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Schostakowitsch durch die Brille Chopins: Yulianna Avdeeva am Gstaad Festival

By , 21 August 2025

Gstaad gibt den Namen, aber die wirklich bemerkenswerten Dinge ereignen sich außerhalb des mondänen Touristendorfs. Auch dieses Jahr zeigt das nach seinem Begründer benannte Gstaad Menuhin Festival ein janusköpfiges Gesicht: Da sind zum einen die auf den Geschmack des großen Publikums ausgerichteten symphonischen Konzerte im Festival-Zelt von Gstaad, zum andern die für Kenner und Liebhaber bestimmten Kammermusikkonzerte in den schmucken Kirchen der umliegenden Dörfer.

Yulianna Avdeeva
© Maxim Abrossimow

Eine von ihnen ist die Kirche von Rougemont. Im 11. Jahrhundert von den Mönchen der Abtei Cluny gegründet, bildet sie ein Juwel unter den heute noch existierenden romanischen Sakralbauten in der Schweiz. An diesem geschichtsträchtigen Ort gab die Pianistin Yulianna Avdeeva ein denkwürdiges Rezital. Die Russin, die 2010 den internationalen Chopin-Wettbewerb gewonnen hat und in seit einigen Jahren in München lebt, verfolgt eine beachtliche Karriere als Solistin und Kammermusikerin. Jüngst hat sie beim Label Pentatone die 24 Präludien und Fugen, Op.87 von Dmitri Schostakowitsch eingespielt, mit denen sie gegenwärtig auf Tournee geht.

In Rougemont kombinierte Avdeeva Ausschnitte aus Schostakowitschs Op.87 mit den 24 Préludes, Op.28 von Frédéric Chopin. Beide Zyklen beziehen sich, wenn auch in unterschiedlicher Ausformung, auf Das Wohltemperierte Klavier von Johann Sebastian Bach. Während Schostakowitsch die Paarbildung von Präludium und Fuge beibehält, besteht Chopins Klavierzyklus ausschließlich aus Préludes, die damit den Charakter eines „Vorspiels“ verlieren. Zudem ersetzen beide Komponisten bei der Tonartenreihenfolge Bachs chromatische Anordnung durch eine solche, die dem Quintenzirkel folgt.

Dass die Pianistin nicht den ganzen, über zweieinhalb Stunden dauernden Schostakowitsch-Zyklus präsentierte, war gewiss schade, dadurch wäre aber der Vergleich mit Chopin weggefallen. Diese Gegenüberstellung bildete gerade die Pointe des Rezitals. Um das Resultat gleich vorwegzunehmen: Die interpretatorischen Unterschiede fielen nicht sehr ausgeprägt aus. Am Schluss des Abends hatte man den Eindruck, dass die begnadete Chopin-Interpretin auch das monumentale Klavierwerk des Russen durch die Chopin-Brille hindurch betrachtet.  

Schostakowitsch, der seine Präludien und Fugen im Anschluss an seine überwältigenden Eindrücke vom Leipziger Bachfest 1950 komponiert hat, bezieht sich formal und stilistisch recht deutlich auf sein Vorbild. Annäherung und Distanz bilden dabei ein dialektisches Begriffspaar. Offenheit und Versteckspiel waren für den Komponisten in den Jahren vor Stalins Tod auch in anderen seiner Kompositionen eine wichtige Kategorie. Alle diese zum Teil schroffen Gegensätze wurden durch das Spiel von Avdeeva etwas entschärft. Die lyrischen und verspielten Aspekte kamen zwar wunderbar zum Zug, aber die harmonischen Härten und die dynamischen Ausbrüche hätte sie noch deutlicher herausstellen dürfen.

Bei Chopin fühlte sich die Pianistin dagegen wie der Fisch im Wasser. Jedem der 24 Stücke verpasste sie einen unverwechselbaren Charakter. Das ist bei deren oft nur kurzer Dauer eine große Kunst und erfordert blitzschnelles Umschalten des Gehirns und der Hände. Perlende Begleitfiguren trugen die Melodie im G-Dur-Prélude, mit zarten Akkorden hüllte sie die elegische Kantilene des e-Moll-Präludiums ein, virtuos-aufgedreht erklang das fis-Moll-Prélude... man könnte die Liste fortsetzen. Beim berühmten Prélude in Des-Dur (der Name „Regentropfen“ stammt nicht von Chopin) verströmten die Rahmenteile einen unvergleichlichen Duft, während der dramatische Mittelteil dynamisch etwas abgemildert wurde. Zusammenfassend kann man sagen, dass Avdeeva mit ihrer Interpretation einen durch und durch poetischen, sensiblen und auch etwas kränkelnden Chopin präsentierte, der viel näher bei Schumann steht als bei Liszt. 


Die Kosten von Thomas Schachers Pressereise wurden vom Gstaad Menuhin Festival übernommen.

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