Es war einmal ein Mädchen, das war so musikalisch, dass die Eltern ihm ein Violinstudium ermöglichten. Die junge Geigerin zeigte so viel Talent, dass sie schnell eine steile Karriere hinlegte. Und heutzutage ist die inzwischen gereifte Künstlerin so gefragt, dass sie fast jeden Abend irgendwo auftritt und das Publikum begeistert. Man könnte richtig süchtig werden nach ihrem Spiel – und dabei ergeht es einem vielleicht wie damals dem persischen König aus Tausendundeiner Nacht, der jeden Abend eine neue Geschichte aus dem Munde der schönen Scheherazade hören wollte.
Die Rede ist von der niederländischen Geigerin Janine Jansen, die sich zum wiederholten Mal in Zürich hören ließ. Seit ihrer Residenz bei der Tonhalle-Gesellschaft in der Saison 2018/19 ist sie in der Limmatstadt ein sehr beliebter Gast. Diesmal führte Jansen das Violinkonzert d-Moll, Op.47 von Jean Sibelius im Gepäck, das sie zusammen mit dem Tonhalle-Orchester Zürich unter der Leitung von Music Director Paavo Järvi interpretierte.
Was Jansen mit Scheherazade verbindet: die Geigerin ist ebenfalls eine begnadete Märchenerzählerin. Dabei kommt ihr der rhapsodische und assoziative Charakter des 1903/04 entstandenen und heutzutage in der revidierten Fassung von 1905 gespielten Konzerts sehr zugute. Man braucht ja nicht gleich das Klischee vom finnischen Barden zu bemühen, aber dennoch haftet dem Werk die Aura des „Es war einmal“ an.
Jansen gestaltet das weitgeschwungene Hauptthema des ersten Satzes aus dem Nichts heraus und entfaltet es dann zu voller Pracht. Dem zweiten Thema mit seinen parallel geführten Sexten und Oktaven gibt sie viel Bogen und erreicht dadurch einen sehr romantischen, schwelgerischen Tonfall. In der technisch anspruchsvollen Kadenz in der Mitte des Satzes, die anstelle einer Durchführung erklingt, spielt sie voll auf Risiko und demonstriert dabei, dass in den vorher exponierten Themen auch ungeahnt Wildes steckt. In der Reprise ist das Orchester stärker in das thematische Geschehen eingebunden, und in der Coda entfaltet sich zwischen der Solistin und dem Tonhalle-Orchester ein dichtes sinfonisches Gewebe.
Im langsamen Satz präsentiert Sibelius nach einer Einleitung der Holzbläser ein unendlich langes Thema des Soloinstruments. Was für eine Intensität des melodischen Ausdrucks und was für betörende Klangfarben in dieser B-Dur-Landschaft entlockt die Solistin hier ihrem Instrument! Wer bis dahin gedacht hat, dass Jansen vor allem eine Lyrikerin sei, wird im dritten Satz, Allegro ma non tanto, eines Besseren belehrt. Auf der technischen Seite zeigt Jansen im Finale eine geradezu Paganini-hafte Virtuosität, und im Ausdruck gestaltet sie es als wilden Galopp, mit dem man ganz unterschiedliche Assoziationen verbinden möchte.
Man kann das Sibelius-Konzert natürlich auch anders interpretieren. Julia Fischer spielt es geerdeter, Hilary Hahn weicher. Janine Jansen verbindet das Irdische und das Abgehobene auf ihre ganz eigene Art und trägt so zu einem unverwechselbaren Konzerterlebnis bei.