Obwohl Solastalgia nach dem ersten Hören einen deprimierenden Eindruck hinterließ, sorgten ein strahlender Solist (Vincent Cortvrint), ein konzentriertes Orchester (Royal Concertgebouw Orchestra) und ein sorgfältiger Dirigent (Stéphane Denève) für eine erstklassige Uraufführung von Erkki-Sven Tüürs Piccolokonzert.
Der in Estland geborene Tüür ist ein gesellschaftspolitisch engagierter Komponist. Er möchte nach eigenen Aussagen die kreative Energie seiner Zuhörer erreichen. Der Titel Solastalgia bedeutet sehnsüchtiges Heimweh nach dem früheren, durch den Klimawandel zerstörten Zustand eines Ortes. Der unvorbereitete Zuhörer kann von all dem wenig entdecken oder hören. Ohne intellektuellen Leitfaden ist diese neue Komposition ein anstrengendes Hörereignis. Tüür schreibt sehr symphatisch auf seiner Webseite dazu: „Do I have any solutions to offer? No, I don’t. And this composition won’t make the world a better place either. At best, it’s a lone voice in the wilderness...“
Das Stück beginnt mit einem Geigenbogen gestrichenen Vibraphonton. Dann kann man geblasene Luft von den Blechbläsern hören, der Solist spielt eine kurze hohe Melodie, die danach von Bass- und Altflöte kommentiert wird. Wunderschöne Flageolettreihen von den Flöten, angenehme Klarinettentöne, viele Triller und bedrohlich klingende Blechbläserakkorde folgen. Der Solist bewegt sich oft in den höchsten Registern nahe der Schmerzgrenze, wo er vom Glockenspiel unterstützt wird; im unteren Register klang das Piccolo oftmals etwas heiser. Auf der Bühne stand ein Schlagzeug, welches gegen Ende des Stückes wie auch bei anderen Stücken von Tüür einige rockartige Soli spielte und dabei vom vollbesetzten Orchester begleitet wurde. Zum Ende hin wird das Stück leiser, die Flötengruppe spielt wieder ihre wunderschönen Flageolettglissandi und eine Melodie, die an eine Indianerflöte erinnert. Es endete nach tonlosen Klopfgeräuschen der Querflöten in sekundenwährender Bewegungslosigkeit.
Tüür schrieb kein traditionelles Solokonzert, sondern eine musica concertante. Er vergleicht die Rolle des Soloinstruments mit dem des berühmten Schmetterlings von Lorenz, dessen Flügelschlag einen Tornado auslösen kann. Seine Kompositionsmethode ist strengen mathematischen Regeln unterworfen – „I develop my musical material according to factors such as the angle of ascent or descent, curve characteristics“. Tüur beschreibt sich aber gleichzeitig als einen intuitiven Künstler, dem es darum geht, sein ursprüngliches musikalisches Material natürlich entwickeln zu lassen.