Nach den beiden grandiosen Eröffnungskonzerten, in denen Thomas Hengelbrock mit geschickter Programmdramaturgie die klanglichen Möglichkeiten der Elbphilharmonie vorgeführt hatte, stand am Folgetag die Uraufführung eines Werks auf dem Programm, das nach Aussage seines Komponisten Jörg Widmann speziell vom neuen Konzertsaal inspiriert ist: sein abendfüllendes Oratorium Arche, ein Auftragswerk des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg. Dabei versteht er den Titel des Werks symbolisch und doppeldeutig: einmal steht er für das Haus selbst als schützenden Raum für die Kunstform Musik inmitten gesellschaftlich unruhiger Zeiten, zum anderen handelt das Werk thematisch vom Bedürfnis des Menschen nach einem bewahrten, gesicherten, friedvollen Dasein.
Es sind existentielle Fragen, die dieses Werk aufwirft, für das Widmann zahlreiche Texte heterogenster Herkunft als Libretto zusammengestellt hat, geistliche Texte wie auch philosophische, Lyrik und Prosa aus vielen Jahrhunderten. So vielfältig wie die Textwahl sind auch die musikalischen Mittel, mit denen Widmann arbeitet. Radikal neu sind seine klanglichen und formalen Wege nicht; Widmann ist nicht der Komponist hermetischer Klänge, bewegt sich nicht in abgehobenen, intellektuellen Sphären; die geistigen Quellen seines Werks erschließen sich klar. Traditionsbezug wie auch kreativ Innovatives gehen in Widmanns Komposition eine Verbindung ein, die zuerst irritiert. Hart gegeneinander gefügt werden dissonant freitonale Passagen gegen klassische Choralsätze. Sprache und Gesang, Geräusche und Töne sind Mittel, die der Komponist wirkungsvoll einsetzt; stellenweise wird Ernst durch Ironie gebrochen: alles im Sinne der Verfremdung zwecks eines besseren Gewinns an Erkenntnis.
Fünf Teile hat das Werk, das sich am biblischen Ablauf orientiert. Der erste Teil Fiat lux beginnt tonlos; lediglich Wasser- und Windgeräusche versinnbildlichen das Chaos, aus dem Gott dem Schöpfungsbericht zufolge alles erschuf. Diesen Bericht zitieren alternierend ein Junge und ein Mädchen sprechend anstelle der gesungenen Rezitative des klassischen Oratoriums. Der Chor raunt mehr als dass er singt: „Die Erde war wüst und leer.“ Allmählich konkretisieren sich die Geräusche zu Tönen und „fiat lux“ wird gleichbedeutend mit „Es werde Klang.“
Das Philharmonische Staatsorchester gestaltete diesen Übergang ungemein sensibel und gab dem Klang dieses mystischen Augenblicks aus Harfe und Glasharmonika schillernde Farbigkeit. Gleich aber konterkariert Widmann eventuell entstehendes Pathos wieder, indem der Solobariton nicht etwa vom „ersten Tag” singt, den Gott nun erschaffen hat, sondern einen Gast im Publikum per Handschlag echt norddeutsch mit „Tach“ begrüßt und gleich eine zweite Möglichkeit des Weltbeginns in den Raum stellt: „Am Anfang war das Wort.“ So geht es weiter im ganzen Werk – Dialektik wird zum bestimmenden Prinzip. An den Schluss seines Schöpfungskapitels setzt Widmann dann auch als Fazit über das Wesen des Menschen den Vers von Matthias Claudius: „Glaubt, zweifelt, wähnt und lehret / Hält nichts und alles wahr“, vertont das ganze Gedicht zwar in der Manier eines Bach’schen Chorals, diese Stelle aber besonders dissonant und sperrig.