In einem Brief an eine befreundete Pianistin kündigte Johannes Brahms an, er habe gerade „ein kleines Klavierkonzert” geschrieben und meinte damit sein Zweites Konzert für Klavier und Orchester in den stattlichen Ausmaßen von vier Sätzen (wie kein vergleichbares Konzert je zuvor) und einer Dauer von rund 45 Minuten: ironisch vom Komponisten selbst heruntergespielt, aber welcher Reichtum ist darin verborgen! Igor Levit und die Wiener Philharmoniker unter Christian Thielemann hoben an diesem Abend im Festspielhaus Baden-Baden darin alle Schätze. Zudem gab es noch Brahms’ Dritte Symphonie. Es wurde ein Konzert der Sonderklasse.

Levit, Thielemann und die Wiener erwiesen sich als hervorragendes Team. Das Zweite Brahmskonzert wird bisweilen kritisiert, weil es dem Pianisten kaum Raum zur virtuosen Selbstdarstellung gibt. Es enthält keine Kadenz im klassischen Sinn. Levit machte daraus jedoch einen Vorzug. Durch intensive Kommunikation des Solisten mit dem Orchester entstand musikalisches Teamwork, eine bezwingende Übereinstimmung in der Auffassung der Interpretation, die Thielemann nachdrücklich unterstützte. So entstanden wunderschöne Übergänge, in denen das Klavier vom Orchester ein Thema übernimmt oder das Orchester den Klavierpart weiterführt. Bewundernswert gelang der Adagioschluss des dritten Satzes als intimer Dialog zwischen den Klarinetten mit den Arpeggien im Klavier, und als die Streicher sanft hinzukamen und nochmals das Solocello vom Anfang, da schien die Musik kurz stillzustehen und strahlte für ein paar Momente wirklichen Zauber aus.
In allem schien Igor Levit sich in die innere Welt dieses Konzerts tief zu versenken, nahm sich stellenweise so sehr zurück, dass das Klavier im Gesamtklang aufzugehen drohte, was aber – ließ man sich nur darauf ein – den Ausdruck verstärkte und das Hörerlebnis intensivierte. Die ungeheuren technischen Anforderungen meisterte Levit gelassen und souverän, den blendenden Virtuosen musste er gar nicht hervorkehren und gab ihn doch mit unaufdringlicher Selbstverständlichkeit im Schlusssatz, so wie Brahms es vorgeschrieben hat als Allegro grazioso. Wobei auch hier das Orchester wieder in gleicher Haltung seine außergewöhnliche Qualität bewies – mit Schwung und dennoch spielerisch leicht in diesem fulminanten Rondo. Qualitäten, welche die Wiener in der Dritten Symphonie nochmals aufs Schönste hervorkehrten.
Auch hier nutzte Thielemann den warmen, eher weichen Klang des Orchesters zu berückend schönen Momenten etwa im Andante in einer Episode des Zusammenspiels der Holzbläser. Da nahm er sich regelrecht Zeit für die Poesie der Musik, die auch hier wieder (wie im Klavierkonzert) in einen zauberhaften Klangmoment zusammenfloss. Keine Note blieb unbeachtet, überall war die Musik klanglich durchgearbeitet und mit Ausdruck versehen. Stahlhart konnte es klingen, aber auch samtweich, intensiv im Lyrischen wie im Dramatischen, das an einer Stelle des Klavierkonzerts (zweiter Satz) einen drängenden und fast bedrohlichen Akzent bekam. In der Symphonie allerdings herrschte eine Grundheiterkeit vor, wie man sie nach den Worten von Antonín Dvořák „bei Brahms nicht oft findet”. Treffsicher war dies hier erfüllt. Meisterhaft auch die Spielkultur, die herrlichen Hörner, die Skalen bei den Streichern blitzsauber und präzise. Das Orchester zeigte sich von seiner allerbesten Seite. Thielemann baute aber auch Spannung auf, das kraftvolle Schlussallegro gelang atemberaubend, bis die Energie sich in der Coda des Schlusssatzes allmählich löste und die Symphonie in langen Bläserakkorden über sanften Streicherbewegungen ausklang.
Es war keine große Überraschung, dass es nach langem Jubel für Dirigent und Orchester noch eine Zugabe gab. Als temperamentvollen Kehraus hatten sie aus den über 500 Kompositionen von Johann Strauß eine Schnellpolka mitgebracht als einen kleinen Vorgeschmack auf das bevorstehende Neujahrskonzert in Wien. Aber Brahms und Strauß – das passt auch bestens zu Baden-Baden, denn hier sollen sich beide Komponisten aus Wien erst richtig angefreundet haben, als Brahms hier viele Jahre die Sommermonate verbrachte und Johann Strauß bei zahlreichen Konzerten vor Sommergästen Triumphe feierte. Da war natürlich das brahmsaffine Baden-Badener Publikum noch doppelt begeistert.