Moderner Tanz beim Holland Festival 2024: Das war ein Sturm von ungewöhnlich überraschenden Kostümen, ein Wirbelwind von extravaganten, die Sinne benebelnden Bewegungen und ein Tsunami von gegensätzlichen kaum zu kontrollierenden Emotionen. Getanzt wurde auf einen vom Choreographen einfühlsam zusammengestellten Musikmix, indem Klavierwerke von Satie und Slightly hung over von Blues Delight ganz natürlich einander abwechselten und gerade durch die Unvorhersagbarkeit des Folgenden eine hypnotisierende Sogwirkung entwickelte. Und das alles passierte, während auf der Bühne eine fantasievolle Geschichte erzählt wird: Die Geschichte des Romeo, eines Tanzes der laut eines im Saal verteilten Handzettels schon seit Jahrtausenden von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Seit 2019 leitet Trajal Harrell das Schauspielhaus Zürich Dance Ensemble, wo im vergangenen Jahr seine neuste Choreographie,The Romeo, Premiere feiert. Harrell portraitiert darin wie auch schon in seinen früheren Arbeiten die amerikanische Ballroom-Szene. Diese in New York entstandene afroamerikanische und lateinamerikanische Bewegung in der US-amerikanischen LGBTQIA+-Szene entwickelte in den 1970erJahren einen Voguing genannten Tanzstil. Dabei laufen Teilnehmer auf einem Catwalk, um in verschiedenen Kategorien Preise, Trophäen oder Ruhm zu erringen. Durch Madonnas international erfolgreichen Hit Vogue (1990) wurde Voguing in weiten Kreisen bekannt und erreichte damit auch den Mainstream.
Harrell geht in seiner Tanzsprache zurück in die Antike, und wir entdecken Bewegungselemente, die wir von antiken Vasen oder ägyptischen Hieroglyphen zu kennen meinen und so von den alten Römern oder Ägyptern stammen könnten. „The Romeo ist eine imaginäre Choreographie, eine Reise, die uns durch Generationen und Kulturen führt, aber ohne genaue Daten. Wie der Tanz selbst reisen auch die Musik und die Kostüme durch die Zeit und die Kulturen. Als ich jünger war, faszinierte mich die Art und Weise, wie der Tanz durch die ganzen Vereinigten Staaten reiste, um schließlich in unserer kleinen Stadt in Georgia zu landen. Die Tänze, die von Miami oder Atlanta bis in unsere kleine Stadt kamen.... Wir haben sie gemeinsam gelernt, wir haben die Schritte aneinander weitergegeben...“
Die zwölf Tänzer, zu denen auch Harrell gehört, kommen in immer neuen, verrückten Verkleidungen aus einer Art mittelöstlichen Haremsvorbau. Die feinziselierten halboffenen Wände geben erst nur Schattenrisse frei und damit dem Vorstellungsvermögen allen Raum. Die wohl mehrere hundert verschiedenen Auftritte prasseln unermüdlich wie ein angenehm warmer sommerlicher Nieselregen auf die Zuschauer ein. Masken, Kunstblumen zwischen den Zähnen und unter Kapuzen und hinter Sonnenbrillen versteckte Gesichter werden abgewechselt mit hochmütigen Posen auf ausdrucksleeren Gesichtern. Die Tänzer bewegen sich als von Meereswogen sanft geschaukelt, brechen aus in extrem ekstatische Soli und fügen sich wieder ein in den Reigen.
Genau in dem Augenblick in dem sich ein gewisser Sättigungsgrad einstellte und sich die Frage nach dem „Warum” des Ganzen stellte, lässt Harrell Hässlichkeit den Haushalt führen. Erst leicht subtil mit gespielten Trunkenbolden, und deren scheinbar weniger koordinierten Tanzbewegungen, später dann immer konfrontierender mit sensationell atemberaubend wirklichkeitsnahen Gesichtsausdrücken, die für unbehagliche Heiterkeit im Saal sorgte. Bald aber wurde deutlich, dass es um ein Fass ohne Boden ging, spätestens als die erste Tänzerin schreiend zu Boden ging. Welch ein Mut, welch eine Beherrschung, welch ein geniales Kalkül!
In diese bedrückende Atmosphäre hinein riefen die Tänzer Namen und Jahreszahlen, als läsen sie diese von imaginären Grabsteinen ab.
Der unaufhörliche Reigen von fantasiebeflügelnden Kostümen kam glücklicherweise noch immer nicht zum Stillstand und unterstrich weiterhin die Unerschöpflichkeit individueller Persönlichkeitsentfaltung selbst über den Tod hinaus. Moderner Tanz sagt mehr als tausend Worte.