Bachs Goldberg-Variationen sind eine Komposition für Cembalo, „vors Clavicimbal mit 2 Manualen“, wie Bach im Titel des 1741 veröffentlichten Werks schreibt. Heute werden sie, wie auch das Italienische Konzert, die sechs Partite (BWV 825-830) oder das Wohltemperierte Clavier, im Konzertsaal mehr von den Pianisten als von den Cembalisten gespielt. Die Cembalisten sind dabei typischerweise Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis, während die Pianisten meist Allrounder sind, die unter anderem auch Bach spielen. Beispiele wären da Angela Hewitt, András Schiff oder der 2022 verstorbene Lars Vogt.

Ein vielseitig interessierter Künstler ist auch der Pianist Víkingur Ólafsson. Mosaiksteine in der bisherigen Karriere des 40-jährigen Isländers bilden etwa Philip Glass, Debussy, Chopin, Schubert und eben Bach. 2023 hat er bei der Deutschen Grammophon dessen Goldberg-Variationen eingespielt – auf Klavier. In der laufenden Saison tourt er um die Welt, um das Publikum an seiner künstlerischen Vision Anteil nehmen zu lassen. Jüngst ist er auch in der Tonhalle Zürich aufgetreten.
„Das Ich als Instanz“, könnte man den subjektivistischen Ansatz Ólafssons bezeichnen. Aus der Sicht der historischen Aufführungspraxis müsste man kritisieren, dass der Pianist alles falsch macht, was man nur falsch machen kann. Aber damit wird man ihm nicht gerecht. Indem er das Werk auf einem modernen Flügel interpretiert, nimmt er das Publikum mit auf eine Zeitreise, die bei Bach beginnt, sich ausgiebig in der romantischen Periode aufhält und in der heutigen Zeit endet. Was dabei richtig oder falsch ist, entscheidet der Pianist letztinstanzlich. Als Kritiker kann man diese Auffassung aus puristischen Gründen ablehnen und für das Bachtrack-Rating nur einen Stern vergeben oder man kann sich davon restlos begeistern lassen und fünf Sterne verteilen. Ich schließe mich da der zweiten Gruppe an.
Denn was Ólafsson während diesen gut achtzig Minuten in der Zürcher Tonhalle technisch und künstlerisch vorführt, ist schlicht gesagt sensationell. Die Eigenschaften des Konzertflügels mit der Möglichkeit der kontinuierlichen Lautstärkeveränderung, der Pedalisierung und der Artikulation nützt er restlos aus. Dazu kommt eine raffinierte Agogik – also kleine Tempoveränderungen im Vortrag zur Steigerung des Ausdrucks. In der Geschwindigkeit sind dem Pianisten keinerlei technische Beschränkungen auferlegt, so dass einige der dreißig Variationen in rasendem Tempo vorbeiflitzen, andere wiederum recht gemächlich vorbeiziehen. Apropos Virtuosität: Betörend ist Ólafssons Fähigkeit, diejenigen Variationen, die Bach für zwei Manuale des Cembalos notiert hat und bei denen die Stimmen sich ständig kreuzen, auf dem Klavier so umzusetzen, dass nicht nur seine Finger problemlos aneinander vorbeikommen, sondern dass man als Hörer auch den Stimmenverlauf mitverfolgen kann.
Ein weiteres Merkmal von Ólafssons Interpretation ist die Spannung von Strukturbetonung und Freiheit. Erstere scheint besonders in den Kanon-Variationen immer wieder auf, bei denen der Pianist von Fall zu Fall die vorausgehende Stimme, die nachfolgende Stimme oder gar den begleitenden Bass herausholt. Bei den virtuosen Charaktervariationen dagegen wirkt Ólafssons Spiel oft völlig improvisiert, obwohl er genau den Notentext wiedergibt, und in eine weitab von Bach gelegene Zeit transferiert. Auf das Konto der Freiheit gehen auch die Wiederholungen. (Jede Variation ist zweiteilig, und jeder Teil wird ausnahmslos wiederholt.) Es gibt da keine Vorhersagbarkeit, keine Regelhaftigkeit, sondern immer wieder neue Beleuchtungen, die überraschen.
In der großformalen Anlage gliedert Ólafsson das Werk nicht, wie das mit der Platzierung der kanonischen Variationen gegeben wäre, in Dreiergruppen. Bald hängt er zwei Variationen ohne Pause aneinander, bald hält er inne, um Luft für eine größere Steigerung zu holen. Dass die Variation 16, die Ouverture, die den zweiten Teil der Goldberg-Variationen einläutet, fast beiläufig im Pianissimo beginnt und erst allmählich aufdreht, befremdet dann doch ein bisschen. Dieser zweite Teil des Werks erscheint noch deutlicher als der erste im Zeichen der Virtuosität. Nachdem in der Adagio-Variation Nr. 25, die wie ein verzärteltes Chopin-Prélude klingt, die Zeit beinahe stillgestanden hat, betört der Pianist in den Variationen 26 bis 29 mit einem pianistischen Feuerwerk, das ich so noch nie gehört habe. Attacca geht daraus das berühmte Quodlibet hervor, das mit der zitierten Liedmelodie Ich bin so lang‘ nicht bei dir g’west die Wiederholung der Aria vorbereitet. Diese selbst hört sich dann, nach den vorhergegangenen wilden Stürmen, wie ein Ankommen im sicheren Hafen an. Wir sind wieder zu Hause – oder vielleicht auch im Jenseits.