Jubiläen wollen gefeiert werden: Die konzertante Wiedergabe von Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion im Fraumünster Zürich fand fast auf den Tag genau 300 Jahre nach ihrer Uraufführung in Leipzig statt. Zusätzliche Pointe: gegeben wurde nicht die üblicherweise gespielte Fassung, wie sie in der Neuen Bach-Ausgabe überliefert wird, sondern die Originalfassung von 1724. Spiritus Rector dieses Ereignisses ist der Cembalist, Organist und Dirigent Andrea Marcon. Eingeladen vom Forum Alte Musik Zürich, musizierte Marcon zusammen mit dem von ihm gegründeten La Cetra Barockorchester & Vokalensemble Basel sowie einer bemerkenswerten Solistengruppe.

Andrea Marcon © Marco Borggreve
Andrea Marcon
© Marco Borggreve

Nach dem Anhören der gut zwei Stunden dauernden Passion muss man sich als Hörer eingestehen, dass die Unterschiede zur üblichen Fassung kaum auffallen und sich nur bei genauer analytischer Arbeit erschliessen würden. Als Haupteindruck bleibt vielmehr die Art von Marcons Interpretationsansatz haften, die aber mit der Frage der Fassung nur bedingt zusammenhängt. Man muss diesen Ansatz als sehr dramatisch bezeichnen. In Marcons Dirigat wird Bachs Johannes-Passion zu einem geistlichen Drama, ja gewissermassen zu einer geistlichen Oper über das Leiden und Sterben Jesu Christi. Dies berührt und wühlt auf.

Besonders deutlich tritt dieser Ansatz im Verhör und in der Verurteilung durch Pilatus zutage. Schlag auf Schlag lässt der Dirigent da die Erzählung des Evangelisten, die Worte der handelnden Personen und die Volkschöre aufeinandertreffen. Der Schweizer Tenor Jakob Pilgram in der Rolle des Evangelisten fasziniert mit einer mustergültigen rhetorischen Gestaltung. Er mimt nicht den objektiven Erzähler, sondern den anteilnehmenden und bisweilen ergriffenen Kommentator. Seine geschmeidige Stimme zeigt bis zum Schluss kaum Ermüdungserscheinungen. Mit einem ungewohnten Charakter ist die Jesus-Rolle besetzt. Christian Wagner, mehr Bariton als Bass, zeichnet die Figur weniger als würdevollen, sondern mehr als empfindsamen und manchmal etwas sentimentalen Charakter. Diese Deutung passt eigentlich besser zu den Arien, beispielsweise „Mein teurer Heiland”, die Wagner ebenfalls singt. Auch von der Dramaturgie her wäre es besser gewesen, Jesus und die Bassarien auf zwei Sänger zu verteilen.

Einen wesentlichen Anteil an diesem dramatischen Konzept hat das Vokalensemble. Nur gerade mit sechzehn Sängerinnen und Sängern bestückt, zeigt der Chor in den Volksszenen erstaunliche Virtuosität und beeindruckende Schlagkraft. Wenn das Volk „Weg, weg mit dem, kreuzige ihn” schreit, kann Pilatus gar nicht anders als nachzugeben. Bei den Chorälen hingegen, die ja die Stimme der Gemeinde darstellen, wäre etwas weniger artifizielle Gestaltung durchaus angebracht. Zu einer echten Katharsis führt der Schlusschor „Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine”, der gerade durch den Verzicht auf Sentimentalität grossen Trost spendet.

Einen wirkungsvollen Kontrast zur Dramatik des Golgatha-Geschehens bilden die betrachtenden Einschübe der Arien. Eine Entdeckung ist die junge israelische Sopranistin Shira Patchornik. Mit ihrer astreinen Stimme, ihrer klaren Linienzeichnung und ihrer natürlichen Ausstrahlung setzt sie in den beiden Sopranarien Glanzpunkte. Die Altistin Sara Mingardo mit ihrem opulenten Klang und ihrem starken Vibrato ist keine ausgesprochene Barocksängerin, vermag aber in der Arie „Es ist vollbracht” beim Tod Jesu dennoch zu fesseln. Der Tenor Mirko Ludwig mit seinem leidenschaftlichen Temperament ist für die beiden aufgewühlten Arien „Ach, mein Sinn” und „Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken” genau der richtige Mann.

Das Barockorchester La Cetra stellt eine Klasse für sich dar. Schon optisch bilden die alten (und nachgebauten) Instrumente eine Augenweide. Und musikalisch bewegen sich die dreiundzwanzig Instrumentalistinnen und Instrumentalisten mit grösster Selbstverständlichkeit im stilistischen Rahmen des historischen Musizierens. Ein grosses Lob gebührt der Continuo-Gruppe, besonders dem Cembalisten Johannes Keller , der die Rezitative des Evangelisten immer wieder mit stegreifartigen Einlagen eröffnet. Unter den Solostücken sei besonders die Arie „Erwäge” erwähnt, in der die Konzertmeisterin Eva Saladin und Germán Echeverri Chamorro den Sologesang auf ihren beiden Viole d’amore in schönster Terzenseligkeit begleiten.

****1