Für einmal erwies sich das offenbar unvermeidliche Aufwärmstück als schlüssiger Einstieg in den Abend. Dem Vierten Klavierkonzert Beethovens und der Fünften Symphonie Schostakowitschs vorangestellt war ein Satz aus der Dritten Symphonie Gustav Mahlers. Konkret: das von Benjamin Britten arrangierte Menuett, dem der Bearbeiter den Namen What the Wild Flowers Tell Me gab. Beim späteren Anhören der Schostakowitsch-Symphonie wurde einem bewusst, wie viel Mahler in dieser monumentalen Komposition liegt. In der Interpretation des Tonhalle-Orchesters Zürich unter seinem Chefdirigenten Paavo Järvi führte der Weg von Mahlers Menuett direkt zum Scherzo von Schostakowitschs Symphonie.

Die spielerische Leichtigkeit des Mahler-Menuetts machte auch die Bahn frei für Beethovens Klavierkonzert Nr. 4. Die Pianistin Hélène Grimaud deutete dieses Werk richtigerweise als Kontrast zum dramatischen Dritten und zum auftrumpfenden Fünften Konzert des Wiener Klassikers. Die Weichen stellte sie gleich zu Beginn mit dem unbegleiteten Hauptthema: Lyrisch, geradezu zärtlich spielte sie es, und Järvi nahm diesen Tonfall für die orchestrale Wiederholung sogleich auf. Überhaupt herrschte eine große Übereinstimmung des Wollens zwischen der Solistin und dem Dirigenten. Das eine ergab sich aus dem andern: Wenn beispielsweise die Durchführung des Orchesters im Forte auf die Reprise zielte, brachte Grimaud das anschließende Hauptthema in all seiner Pracht zur Geltung.
Bei der groß angelegten Solokadenz bewies die Pianistin, dass sie pianistisch auch mal die Krallen zeigen kann. Eindrucksvoll stellte sich im langsamen Satz die Zweigleisigkeit zwischen dem verträumten Spiel auf dem Klavier und den unerbittlichen Unisono-Klängen des Orchesters dar. Und im Rondo punktete Grimaud mit einer spritzigen Interpretation und einer ganz und gar unaufdringlichen Virtuosität. Nach wie vor ist sie eine der bemerkenswertesten Persönlichkeiten am Pianisten-Himmel.
Schostakowitschs Symphonie Nr. 5 in d-Moll kann man nur vor dem biographischen Hintergrund des Komponisten und dessen politischen Implikationen richtig verstehen. Nach der von Stalin veranlassten Kritik an seiner Oper Lady Macbeth von Mzensk war die Symphonie der Versuch, sich dem geforderten „sozialistischen Realismus“ zu beugen – mindestens zum Schein. Daraus resultiert eine bemerkenswerte Doppelbödigkeit des Werks, die man seither, je nach politischem Standort, als Verherrlichung des stalinistischen Systems oder als Kritik an demselben gedeutet hat.
Järvi, im damals zur Sowjetunion gehörenden Estland geboren und 1980 mit seiner Herkunftsfamilie in die USA emigriert, hat da eine klare Meinung. Er braucht sie nicht verbal auszudrücken, sondern formuliert sie über die musikalische Interpretation. Schon beim ersten Satz des scheinbar konventionellen viersätzigen Werks ahnte man als Hörer, dass die Sache schiefgehen könnte. Das mit übertriebener Energie gestartete Hauptthema fällt schon kurz danach in sich zusammen, der Seitensatz klingt wie gelähmt, die dramatisch geprägte Durchführung mündet in das unisono geführte, schrill herausgeschriene Hauptthema im dreifachen Forte, der Schluss versinkt in Depression.
Im Scherzo knüpfte Järvi deutlich an das eingangs gespielte Mahler-Britten-Menuett an, und die scheinbare Harmlosigkeit des Tanzsatzes erwies sich immer wieder als trügerisch. Das Herzstück der Symphonie, das fast zwanzig Minuten dauernde Largo, gestaltete der Dirigent als ergreifende Trauermusik. Das Tonhalle-Orchester beeindruckte besonders im leisen Bereich mit fabelhaften dynamischen Abstufungen, die man bei ihm sonst selten hört. Und dann das Finale: Äußerlich in der Nachahmung Beethovens als Weg „per aspera ad astra“ angelegt, mündet der Satz am Schluss in einen plakativen Marsch in gleißendem D-Dur. Järvi forcierte dabei seine Blechbläser und die gesamte Schlagzeug-Maschinerie bis zum Geht-nicht-mehr und ließ die Streicher mit ihren pulsierenden Tonrepetitionen auf der Dominante wie Sägewerke arbeiten, so dass der Siegesmarsch schlicht in eine Parodie umschlug.