Auch wenn die initiale Aufführung von Francesco Bartolomeo Contis Oratorium La colpa originale für Kaiser Karl VI. 1718 in Wien stattfand, feierte die Partitur des 1739 letztmals gehörten Werks nun zu erster neuzeitlicher Wiedergabe durch Dorothee Oberlinger und ihr Ensemble 1700 beim Festival Alte Musik Knechtsteden runden 300. Geburtstag. Denn jenes spielbar gemachte Manuskript stützt sich auf eine Kopie aus dem Jahr 1725 für ein damalig erneut in der Hauptstadt des Heiligen Römischen Reichs angesetztes Konzert, die Einzug hielt in die riesige Sammlung des Herzogs Anton Ulrich von Sachsen-Meiningen. In ihr schlummern unzählige, weiter nach und nach katalogisierte Musikschätze; unter anderem weitere Contis, die darauf warten, mit finanzieller Unterstützung gehoben zu werden.
Hilfe erhoffte sich auch besagter, damals noch Prinz Anton Ulrich – und zwar aus Wien. Eine seiner Braunschweiger Tanten residierte als Kaisergemahlin Elisabeth Christine in der Hofburg und sollte sich im persönlichen Familienkonflikt dieser dynastischen Linie dafür einsetzen, dass seine zehn Kinder aus erster, unstandesgemäßer Heirat erbfolgeberechtigt werden. Vergeblich, doch sollte Anton Ulrich nach allen Streitigkeiten immerhin noch Regent im Herzogtum werden und bei acht weiteren Nachkommen den adelskonformen Bund der Ehe eingehen. Mit Charlotte Amalie von Hessen-Philippsthal, die mit Anton Ulrichs Schwester die fürstliche Kunstsammlung bewahrte.
Wie die Faust aufs Auge passt da Contis La colpa originale, die Erbsünde, das den biblischen Ausgangspunkt menschlicher Gotteswortverfehlung und Überhöhung um vom Teufel verführte Adam und Eva samt anschließendem Gericht der sterblichen Paradiesvertreibung mit Ausblick auf spätere, durch den Glücksfall Jesus für die Nachwelt gezeichnete Resozialisierung im Himmel schildert. Schon eine ganze Reihe von Opernraritäten absolviert und letztes Jahr in Knechtsteden den im 18. Jahrhundert auch historisch-halbszenisch dargestellten Oratoriumspfad mit vertrautem Regisseur Nils Niemann betreten, verstand es Oberlinger, die eingerichtete Conti-Partitur mit ungebrochener Neugier, affektgesteuert-stilsicherem Temperament und dramatischer Erfahrung zum Leben zu erwecken.

Zu einem Auftakt zum diesjährigen Festivalprogramm „Napoli!“, dem einerseits Contis opernsprachliche Feder Rechnung trug und Oberlinger andererseits durch die Addition zweier Blockflöten die mit Graf Harrach und dessen Werksammlung speziell bestehende österreichisch-neapolitanische Verbindung entlockte. Jenes Holz wurde gemeinsam mit dem Barockhackbrett abseits kadenzierter Obligati zu den Streichern colla parte eingesetzt, deren Bögen für sich sowohl Contis unikalen, teils provokant-wirbeligen Kompositionstypus per se als auch konkret die zauberhaft melodiös-harmonischen, von Affektkontrasten gelenkten, mit Michael Dückers starker Basslaute (anstelle wirklicher Theorbe!) versehenen Arien mit akzentuierter Verve, Sauberkeit und Schöpferlust ausformten. Auch solistisch erfüllte das mustergültig Konzertmeister Evgeny Sviridov in Cherubs „In questo paradiso“. Von fast einzigartig grandioser Qualität zudem das eben selten derart von vokaler Phrasierung durchdrungene Spiel Alexander Brungerts Tenorsackbuts, das neben der Unterstützung der kraftvollen, durchaus homogenen Chöre der göttlichen Intelligenzen Adams Rechtfertigungsanklage gegen Eva sekundierte.
Dieses „Mia compagna io la credea“ sowie Adams erhaben gottesfürchtiger Einstieg und die von Conti phänomenal gezogenen Bahnen im Duett und Terzett lagen Timothy Morgans Counterstimme besser, dessen warme Eleganz im „Pria che a te mi deggio a Dio“ und Lamento allerdings angeschlagener, substanz- und balanceeinbüßend wirkte. Mit dagegen durchgehend einnehmender, rhythmisch und rhetorisch fließender, stil-, betonungs- und phrasierungsschicklicher Stimmführung testierte Sopranistin Jiayu Jin als zunächst lusteitle, dann verzweifelt reumütige Eva ihr beeindruckendes technisches Talent. Geschmeidig, deklamatorisch dabei minimal verwaschener ließ Luigi De Donatos, bei Conti fast erotisierend scheinenden Luzifer seine diabolisch-magischen Überredungskünste walten, mit deren Erfolg sich der Bass in Genugtuung badete. Jeweils leidenschaftlich nachdrücklich und mit weichen Linien kleideten der theatralische Tenor David Tricou als emotionaler Gott und verständlich-angenehmer hoher Mezzo Alice Lackner (Entdeckerin Contis Oratoriums und neue Festivalleiterin in Meiningen!) als vermittelnd fürsprechender, goldiger Cherubin ihre Rollen aus.
Der auf der Knechtsteden-Bühne prangende Erkenntnisbaum trug so nicht nur Äpfel, sondern übersetzt musikalische Früchte Contis, die tatsächlich paradiesische Zustände verheißen und sich beim Ensemble 1700 insgesamt nahe an ihrem ernteinterpretatorischen Reifegrad befanden.