Wurde der Neusser Globe, ein Zwölfeckbau nach dem Holzvorbild des Londoner Shakespeare-Theaters, letztes Jahr erstmals für das Sommeroperngemeinschaftsprojekt der Stadt und des Festivals Alte Musik Knechtsteden zur Bühne für die von Dorothee Oberlinger favorisierten ein- bis zweiaktigen Pastoral- und Arkadienraritäten des neapolitanischen oder mit Preußens Geschichte verbundenen Barock, ging es dort mit Giovanni Alberto Ristoris am Karfreitag 1749 uraufgeführter Dresdner Festmusik I lamenti d'Orfeo in die zweite Runde.
Einem Werk für zwei Soprane, Hörner, Flöten, Oboen, Fagotte, Violinen, Viola und Basso continuo, das Hoflibrettist Pasquini und Kammerorganist Ristori, ein Jahr später zum Vizekapellmeister ernannt, zu Ehren von Sachsens Kurprinzessin Maria Antonia Walpurgis schrieben, um ausflüchtige Ablenkung und neben allen Ehrzwängen Hoffnung auf Besserung zu betreiben. Schließlich darbte das einstmals stolze Sachsen nach den verlorenen Kriegen in Schlesien um die Erbfolge Österreichs unter der eben preußischen Besatzung und dem Verlust von Herrschaftsgebiet, Macht und Geld.
Geld, das Maria Antonia in ihrem kurzen Thronjahr 1763 als Finanzministerin danach verwalten sollte, und eine in jeder Hinsicht machtlosere Zeit bis dahin, in der sich zurückgezogen wurde auf die künstlerische Habe, die die Prinzessin als Mitglied der Römischen Akademie der Künste wegen ihres Dichterschaffens selbst besaß oder kunstgegenständlich und sängerisch-musikalisch pflegte. Die sakrale Behandlung von Ausweglosigkeit und Hoffnung in der Passions- und Ostergeschichte findet ihre Spiegelung dabei literarisch in der Orpheus-Sage mit freilich nötigem Eingriff des Texters, Musenmutter Calliopes Inaussichtstellung der erfüllenden Auferstehung auf die Prinzessin zu münzen. Durchaus anders, als sonst ohne Travestiewechsel im Rollenspiel gehandhabt, war bei der damaligen Premiere sogar eine Sopranistin für Orfeo besetzt, was Oberlinger allerdings nicht anfocht, einen männlichen Part mit der Kopfstimmenbefähigung für die Tessiture zwecks förderlicher, identitärer Bild- und Verständlichkeit zu nehmen.

Auch bei der eingangs angesprochenen Instrumentierung gab es freie Abweichungen, indem neben einem Fagott eine Deutsche Flöte (Traverso) fehlte, die stattdessen teils eine vom Oboisten Georg Fritz gespielte Voice Flute (Blockflöte) ersetzte, wohingegen – karfreitäglich untersagte – Pauken, im Finale große Militärtrommel und zwischendurch weitere perkussive Lautmaler gänzlich hinzugefügt wurden. Dies korrespondierte mit der Idee, den fünfzigminütigen Einakter durch eine musikalische Einordnung der Dresdner Hofmusikverhältnisse vorab mit Maria Antonia Walpurgis' Allegro aus ihrer spritzig-wohlgefälligen Talestri-Opernouvertüre zu strecken, für die Pauken erforderlich sind. Dazu kamen – mit Blockflöte und Oboe als die geblasenen Instrumente barocker Leiden und daraus entstehender Erlösungszuversicht – jeweils zwei Sätze der Cantata per flauto von Hofkapellendirektor Hasse und Ristoris Oboenkonzert. Letzteres besonders passend, hatte der Komponist von diesem selbst Material für Calliopes Arie „Ah figlio mio“ wiederverwendet und das Stück als sogenannte Kirchensonata umgearbeitet.
Sowohl Oberlinger an der bei Hasse natürlich durch ungewöhnlich gesangliche, dramatisch-harmonische Affekte und Koloraturen herausgeforderte Altblockflöte als auch Oboensolistin Clara Blessing erschienen darin wie die von Walpurgis idealisierten Amazonen aus Talestri. Denn mit ihren beweglichen Phrasierungs- und Verzierungs- sowie standhaften Tonintensitätskünsten behaupteten sie sich als treffsichere, galante Kämpferinnen, denen die aufgestaute Hitze im Globe offenbar wenig ausmachte, um Atem und Ansatz an Mundstück beziehungsweise Rohrblatt und Finger am hier gelochten Abzug handwerklich geschickt zu bedienen. Das Ensemble 1700 lieferte dazu, besonders durch den taktwiegenden Swing im melodieumhänglichen Part des Oboenkonzerts, und im folgenden Hauptwerk Ristoris die Haltung rhythmischer Genugtuung, die verbunden mit der generell aufgeräumt-abgeklärten, trotzdem freudigen Verlässlichkeit und horngestützten Pracht die kurze Realitätsflucht mit aufrechterhaltenem Geist adliger Bedeutungshaftigkeit befeuerte.
Diese Rhythmik und Aufgeräumtheit stand – nicht anders zu erwarten – in völligem Einklang zur bewährten Bühnenarbeit von Regisseur Nils Niemann und Ausstatter Johannes Ritter, der sich diesmal jedoch wegen der örtlichen und zeitlichen Verhältnisse von nur zwei Aufführungen des Einakters darauf beschränken musste, Kostüm und minimal notwendige Requisiten für inhaltliche und optische Anhaltspunkte zu erstellen. Den eigentlichen Hintergrund einer barocken Opernbühne steuerte – wie in letzten Theaterrealisierungen des Ensemble 1700 üblich – die unaufdringliche Videoprojektion bei, die in jetzigem Falle von SiegersbuschFilm (Marie Rabanus) verantwortet wurde. Neben der angesprochen rhythmischen und darüberhinaus ja nun einmal bei aller Adaption zeitangemessenen Kongruenz restauratischer Essenz erwies sich das koordinatorisch strenge historische Schauspiel als stetes Einfallstor daraus bewusst wahrgenommener Ausbruchsaktivität und für gesteigerte Ablenkung sorgende Momente inszenierter Komik.
In deren Beherrschung auf gingen Francesca Lombardi Mazzulli und Valer Sabadus, die die Notenlinien der dem Sohn den Kopf waschenden Mutter und ihres klagenden Sprösslings fleischgewordenes Temperament einverleibten. Allen voran Lombardi Mazzulli, die in ihrem so einnehmenden Element von Ausdruckslust war, mit ihrer Rolle als resolute, (zurecht)weise(nde), realitätsgesottene, appellierende, damit gar die Hoffnung als solche Vernunft erscheinende, etwas tröstende Calliope und dem Publikum zu spielen. Und das selbstverständlich in ihrer artikulatorisch und registereingesetzten, beweglichen wie mit instrumentalen Akzenten bestimmenden Art von stilistisch eingehaltener Expertise. Zwar hat Sabadus in seinem eleganteren Aus- und Nachdruck stärkere Vibratotechnik nötig und timbrebestandsmäßig im kopfstimmlichen Petto, erst recht für die ihm liegende, mit Volumen (bei Hörnern schon mehr als herausgefordert) bedachte Höhe, doch machte er den doppelt verzweifelten sowie aus Enttäuschung und mehreren Vorwürfen wütenden, naiven Orfeo ebenfalls zu einem Erlebnis. Fast wie Quixote von Cervantes, Shakespeares Zeitgenossen.